Václav Havel spricht auf dem Wenzelsplatz zum Volk  - © Foto: Getty Images / Sovfoto / UIG

Die Revolte frisst ihre Helde

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Vor 30 Jahren begann der Fall des Eisernen Vorhangs mit politischen Wundern im Osten und einem epochalen Versagen im Westen. Ein Essay.

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Vor 30 Jahren begann der Fall des Eisernen Vorhangs mit politischen Wundern im Osten und einem epochalen Versagen im Westen. Ein Essay.

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Die Freiheit ist ein Gefühl, das nur jene zu schätzen wissen, die sie wirklich am eigenen Leib verspürt haben. Václav Havel, der Freiheitsheld, hat sie mehrfach erfahren. Politisch 1989. Aber noch deutlicher viel später. Die Geschichte ist eigentlich eine Anekdote, die sich in seinem Privathaus in Prag abgespielt hat, als Havel längst schon ein gefeierter Präsident Tschechiens war. Der Erste Mann im Staat ging oft und gerne in die Sauna. Aber eines Tages, wie das Unglück so spielt, schloss er sich darin ein. Es wurde immer heißer und heißer, das Leid Havels unerträglich. Und nachdem er niemanden um Hilfe rufen konnte, beschloss der Präsident, alle seine Kräfte zusammenzunehmen und warf sich gegen die Tür. Das Glas zerbarst, die Tür fiel aus den Angeln und Václac Havel war frei.

In diesem Sinn muss man sich die Staaten des ehemaligen "Ostblock" am Vorabend der Revolution 1989 vorstellen: Als Gefängnisse, in denen der Druck unerträglich wird: Die wirtschaftliche Lage erodiert. Die Nomenklaturen und Staatsführungen Polens, der ČSSR, Ungarns und Bulgariens sind ein Ab-und Sinnbild einer politischen Sklerose -lahm, überaltert, jeden Fortschritt erstickend. Die Eingeschlossenen wehren sich. Bald werden die Türen zur Freiheit eingetreten sein. Von Václav Havel, von Lech Wałęsa und vielen Hunderttausenden.

Aber was dann? Was wurde aus jenen, die die Tore zur Freiheit aufstießen? Warum fürchten Menschenrechtsorganisationen 30 Jahre danach den Rückfall in den Autoritarismus in Polen und Ungarn, in ein politisches Chaos in Tschechien? Wie konnte es nach diesem glorreichen Gestern zu einem solchen Heute kommen? Ich will eine nicht gerade gängige und nicht gerade angenehme Deutung vorschlagen. Nicht die PiS, nicht Orbán oder der zwielichtige Millionär Babiš sind schuld. Sie sind nur Figuren. Aber im Großen versagte der Westen am Osten, nicht umgekehrt, wie oft gesagt -der Osten an der Demokratie.

Lech und Václav

Die Saga beginnt heute vor 30 Jahren in Warschau mit Schein-Wahlen, die ein eindeutiges Ergebnis bringen und einen eindeutigen und offenen Wahlbetrug. Damals, am 4. Juni 1989, durfte nach mehr als 20 Jahren des Konflikts das polnische Volk ein Parlament wählen und sich dabei auch für eine Reformbewegung, die sich aus der Solidarnosc-Bewegung um Lech Wałęsa gebildet hatte, entscheiden. Die Bürger gaben den Reformern zu 100 Prozent ihre Stimmen. Aber die Sitze in der Sejm wurden zu 60 Prozent dem Regime zugeschrieben. Das war einer der Funken, der sich mit anderen paaren sollte. Einer dieser anderen Funken war die Erklärung Michail Gorbatschows, die Völker sollten alleine über ihre Zukunft bestimmen können, die ebenfalls in diesen Tagen vor 30 Jahren geschah. Dieser Satz gilt noch immer. Nur anders, als wir das erwartet haben.

"Ich bin kein Held", rief Václav Havel im November 1989 den Hunderttausenden auf dem Wenzelsplatz zu. Vielleicht war er tatsächlich kein Held, aber er wurde dorthin gehoben, weil er sein Leben und seine Gesundheit schon jahrzehntelang dem Widerstand gegen dieses System geopfert hatte. Weil es ihm egal war, ob seine Hoffnungen sich erfüllten oder nicht, solange er diese Hoffnungen nur hatte. Wer, wenn nicht so einer, ist ein Held? So wurde ein Poet Präsident und in Polen wurde ein Mechaniker Präsident. Vor den ungläubig staunenden Augen des Westens übernahmen die Bürger die Macht, nicht die Großbürger, nicht die Besitzenden. Das war nicht einmal in Frankreich 1789 passiert.

Und hinter dem Poeten stand eine wildgemischte Garde. Wer Englisch sprach (Michal Žantrovský), übernahm die Außenpolitik, einer der Wirtschaft in Amerika studiert hatte, sollte nun eine Volkswirtschaft neu aufsetzen (Václav Klaus). Die alten Kollegen aus den aktionistischen Tagen von "Plastic Universe" (eine tschechische Untergrundband) besorgten den Rest. Auf der Prager Burg hielt nach den Kommunisten eine Truppe Einzug, die sich selbst "ein Sack Flöhe" nannte. Und die Welt war begeistert. Von wegen "Expertenkabinett": Ab 1989 regierten, in revolutionärem Überschwang erfolgreich, ein Theatermacher mit einer Journalistin (Eda Kriseová), einem Fürsten (Karel Schwarzenberg) und einer ehemaligen Kunstturnerin (Věra Čáslavská) auf der Prager Burg. Und was sagte das Volk dazu? Überschwängliche Zustimmung. Niemand sprach von instabilen Verhältnissen.

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