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Die roten Zahlen sind schwer zu vertuschen

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Vergangene Woche wurde an dieser Stelle die „Erfolgsgeschichte” der Zweiten Republik skizziert, wia sie oft in Festreden referiert wird. Aber es gibt auch eine andere Seite der Bilanz, angesichts derer der Stolz auf die Leistungen in der Kehle stecken bleiben müßte.

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Vergangene Woche wurde an dieser Stelle die „Erfolgsgeschichte” der Zweiten Republik skizziert, wia sie oft in Festreden referiert wird. Aber es gibt auch eine andere Seite der Bilanz, angesichts derer der Stolz auf die Leistungen in der Kehle stecken bleiben müßte.

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Der Kapitalismus ist der Sieger in der großen Konkurrenz der Wirtschaftsordnungen. Jedenfalls ist er übriggeblieben. Aber was sind die Bedingungen seines Erfolges? Wir sind zum Wachstum verdammt, schon um die Arbeitslosigkeit in einer immer produktiveren Gesellschaft nicht anwachsen zu lassen, also eine Zwei-Drittel-Gesellschaft zu vermeiden. Und es steht dahin, ob nicht die Wachstumstriumphe in einer umfassenderen, ökologisch-sozial sensiblen Bilanzierung in Wahrheit rote Zahlen zutage fördern. Dabei reden wir noch gar nicht von den strapazierten anthropologischen Bessourcen.

Der Konkurrenzdruck wächst, auch in einer reichen Gesellschaft, die sich besinnen könnte und dennoch alle Facetten ihres Lebens einem ungeheuren Beschleunigungsstreß unterwirft. Irgendetwas ist uns mit dem Faktor „Zeit”, der uns so völlig entgleitet, passiert. Und die noch ehrgeizigere Frage nach dem „Glück”, das alle die hart erkämpften Güter vermitteln, kann in der allgemeinen Vorwärtsdynamik nur als unpassend, peinlich und lächerlich empfunden werden.

Ohne Wachstum sind wir im Fiasko. Mit Wachstum auch. Denn die ökologischen Begrenzungen dieser Erde sind uns mehrmals nachdrücklich zu Bewußtsein gebracht worden. Freilich sind die Industrieländer selbst auf dem Gebiet der ökologischen Politik den planwirtschaftli-chen Systemen überlegen. Aber das reicht nicht. Denn ihr Produktionsmodell wird in den Schwellenländern verallgemeinert. Wenn China in diesem Tempo weitermacht, geht es den japanischen Weg zu einer modernen Industriegesellschaft - und Millionen von Energieverbrauchern und Emittenten stoßen in die Liga der Welt-vernichter vor.

Es gibt keine Beispiele dafür, daß es gelungen wäre, Entwicklungsländern in frühen Phasen ihrer Entwicklung einzureden, sie sollten den schädigenden Weg der Industrieländer nicht gehen. Der Kapitalismus ist so erfolgreich, daß er an seiner globalen Überzeugungskraft scheitert.

Die politischen Verhältnisse waren in Österreich über Jahrzehnte stabil, aber sie befinden sich in einem raschen Erosionsprozeß. Die Strukturen, die den Erfolg getragen haben, lösen sich auf. Die Politikwissenschaftler deklinieren es uns seit längerem vor: sinkende Parteienidentifikation, abnehmende Mitgliedschaft bei Parteien und Verbänden, sinkende Wahlbeteiligung, Politikverdrossen -heit. Den Interessengruppen geht es genauso schlecht wie den Parteien; der Zeitgeist ruft nach freiwilliger Mitgliedschaft, dem Ende der „klassischen” Sozialpartnerschaft. Die Bürger wenden sich scharenweise von der Politik ab, und die Politik selbst wird in einer medienzentrierten Gesellschaft immer mehr zum Showgeschäft.

Die Erfolgsstrukturen lösen sich auf

Einst sprach man vom „Staatsvertrauen”, heute von der „Unregierbar-keit”: Den expandierenden Staatsausgaben ist kein Einhalt zu gebieten. Der Staat ist zu schwach, um egozentrischen Interessengruppen und gierigen Bürgern mit dem Verweis auf das Gemeinwohl Einhalt zu gebieten. Die Solidargemeinschaft stößt bei der Absicherung der Lebensrisiken an Grenzen. Die fetten Jahre sind vorbei. Wie anders als egoistisch könnten sich die Individuen verhalten, wo doch das Idealbild des modernen, kühlen, dynamischen, qualifizierten, europaorientierten Karrieremenschen jede Art von Sorge, Fürsorge, Bindung und Solidarität altertümlich und kleinkariert aussehen läßt?

Je erfolgreicher die Gesellschaft ist, umso mehr schwindet die Solidarität. Es bleiben nur noch die für soziale Probleme aller Art zuständigen Ämter. Das ist nicht nur ein Problem dieses Landes, sondern ein Problem der Moderne überhaupt. Die großen „Mobilitäten” haben ihre Kosten.Die geographische Mobilität der Individuen führt zum Verlust der Heimat; die soziale Mobilität zum Verlust des bergenden Milieus; die Beziehungsmobilität zum Verlust der Familie; und die politische Mobilität zum Verlust sinngebender Ideologien. Es gibt

auch die „Katastrophe der Mobilität”: Befreiungen sind auch Entwurzelungen. Wir leben in einer geborgten Zeit: von der Substanz von Werten und Tugenden, die nicht mehr regenerierbar sind. Toleranz gleitet hinüber in Indifferenz, Freiheit wird zum praktizierten Hedonismus, Individualität verkommt in der harten life-sty-le-Inszenierungsarbeit.

Sinnkrise, Desorientierung, weltanschauliches Vakuum - an den Bauchladen der Kulturkritiker haben wir uns mittlerweile gewöhnt. Vielleicht kämen wir mit dem Anarchismus der Gefühle noch einigermaßen zu Bande; aber er bereitet auch den * Boden für extremistische und populistische Bewegungen. Unübersichtlichkeit drängt zu Freund-Feind-Abgrenzungen. Links- und rechtsextreme Gruppen testen, wie weit die Stabilität der politischen Ordnung geht. Nationalismen bieten Orientierungen, die dem verwirrten Bürger ansonsten vorenthalten werden: Partikularismen als Ausdruck von Angst. Der postmodernen Welt, die Freude hat an der Beliebigkeit von allem und jedem, mangelt es an Wärme, Vertrautheit und Wertsetzungskapazität, und somit schafft sie die Voraussetzungen dafür, daß politische Entre-preneure den Boden vorfinden für Parolen der Gemeinschaftsbeschwörung und der aversionsgeladenen Ausgrenzung. Europa kann eine reiche Insel in einem Meer von Armut und Konflikten werden; Österreich ist wenigstens bei den Beichen mit von der Partie.

Klima der Verdrossenheit

Stück für Stück hat sich aber mit dem steigenden Lebensstandard ein allgemeines Klima der Verdrossenheit verbreitet. Die Wohlstandsdemokratie ist in ihrer moralischen Krise. Man entdeckt in der ausprobierten Befle-xivität die eigene Bodenlosigkeit, und somit läßt man das Nachdenken wieder rasch sein.

Das alles ist kein Beitrag zu jener Alltagsjammerei, die wir als österreichische Besonderheit zur Genüge kennen; auch keines jener großen apokalyptischen Gemälde, die dem ausgehenden 20. Jahrhundert so trefflich zu Gesichte stehen. Das Ganze ist vielmehr als eine notwendige Übung in Ambivalenz zu betrachten. Die Erfolgsgeschichte Österreichs wird durch die Mißerfolgsgeschichte nicht aufgehoben.

Aber die Bilanz schaut anders aus: Soll und Haben. Sein und Haben. Sein oder Nichtsein. Es gibt Sanierungsbereiche, wo wir die roten Zahlen nur schwer vertuschen können. Dort ist Handlungsbedarf. Denkbedarf. Be-formbedarf. Die Festredner haben recht: Stolz und Freude dürfen wir äußern. Die Kulturkritiker haben auch recht:

Unbehagen und Beklommenheit sind angebracht.

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