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Die russische Revolution

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Demokratisierung hat schon begonnen

Als die Bolschewiki nach unserer Zeitrechnung am 7. November 1917 das Kererisiri-Regime stürzten und gemeinsam mit den linken Sozialrevolutionären — auf die Majorität der Sowjets der großen Städte und des Allrussischen Sowjet-Kongresses gestützt — die politische Macht übernahmen, prophezeite die große Mehrheit der „bürgerlichen“ Sozialwissenschaftler und der westeuropäischen Marxisten ihr baldiges Debakel. Auch eine Reihe von Mitgliedern des bolschewistischen Zentralkomitees hatte davor gewarnt, in einem so zurückgebliebenen Land wie in Rußland die Diktatur des Proletariats zu errichten. War es nicht völlig utopisch, in einem Lande die sozialistische Revolution zu beginnen, in dem die industrielle Produktion — die Voraussetzung zum Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft — noch eine so geringe Rolle spielte und die große Majorität der Bevölkerung noch aus Analphabeten bestand, die unter primitivsten Bedingungen agrarisch tätig war?

Die Bolschewiki unter der Führung Lenins hatten in ihrem Schritt die auslösende Initiative zum Beginn der proletarischen Weltrevolution gegen den imperialistischen Krieg auch in den industriellen Ländern Westeuropas gesehen und zunächst nur in der Hoffnung auf spätere Hilfe aus durch die Arbeiterklasse geführten modern entwickelten Staaten für die wirtschaftliche Entwicklung Rußlands den Mut zur Übernahme der politischen Macht gewonnen. Aber die revolutionären Bewegungen in den europäischen Ländern des Westens am Ende des ersten Weltkrieges wurden geschlagen. Sie boten zwar genügend Hilfe, um die Interventionen der kapitalistischen Regierungen des Auslandes gegen die russische Revolution zurückzuweisen und den Bürgerkrieg zu gewinnen, den die geschlagenen .russischen Oberklassen mit der aktiven Unterstützung der Großmächte gegen die siegreiche Revolution führten. Dann blieb jedoch die russische. Revolution isoliert und mußte versuchen, trotz der Zertrümmerung der wenigen Grundlagen moderner industrieller Wirtschaft in ihrem Herrschaftsbereich in den Wirren der Kämpfe und trotz des großen physischen Aderlasses, dem die russische Arbeiterklasse im Bürgerkrieg ausgesetzt war, den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft gleichzeitig mit der Umformung eines zurückgebliebenen Landes in eine moderne Industriegesellschaft durchzuführen.

Es war unvermeidlich, daß diese Aufgabenstellung, die in dieser Form von den russischen Revolutionären bei der Eroberung der Macht nicht vorausgesehen worden war und in dieser Größe im weltgeschichtlichen Prozeß weder vorher entstan-

den noch jemals vorgeplant worden war, unerhörte Widersprüche produzieren mußte. Sie hat in der Sowjetunion die Abirrungen und inhumanen Züge der langen Periode der bürokratischen Diktatur und des brutalen Terrorismus der stalinistischen Periode erzeugt. Aber gleichwohl sind in der Union der sozialistischen Sowjetrepubliken die Grundlagen sozialistischer Eigentumsverhältnisse erhalten geblieben. Das Problem der Industrialisierung wurde gelöst: Die UdSSR ist zur zweiten Industriemacht der Welt aufgestiegen. Das Rußland des Analphabetismus ist verschwunden; nicht nur das großrussische Volk, sondern auch die vielen Nationalitäten des früheren Zarenreiches, deren kulturelle Ent-

wicklung vorher völlig abgeschnitten zu sein schien, sind moderne Kulturnationen geworden. Nach einer langen Periode der Not, wie sie zu Beginn der industriellen Entwicklung als Bedingung der ursprünglichen Akkumulation in allen Ländern entstanden ist, die die Industrialisierung lediglich aus eigener Kraft durchführen mußten, ist der Lebens-

Standard der Bevölkerung des ersten sozialistischen Staates der Welt auf ein Niveau gestiegen, das zwar noch unter demjenigen der älteren kapitalistisch organisierten Industrienationen, aber bereits über demjenigen einer ganzen Reihe kleinerer kapitalistischer Länder liegt.

Die Sowjetunion konnte sich trotz des anfänglichen Widerstandes zunächst aller kapitalistischen Staaten schon in den letzten Jahren vor dem zweiten Weltkrieg in das Konzert der Großmächte hineinzwängen. Sie hat im zweiten Weltkrieg die Probe der Auseinandersetzung mit dem Block der faschistischen Staaten bestanden und durch ihre militärische Leistung zur Niederwerfung des Anpralls nationalsozialistischer Barbarei entscheidend beigetragen, der als äußerste Konsequenz der Entwicklung des Imperialismus auf der

Grundlage spätkapitalistischer Produktionsverhältnisse die Welt mit dem Untergang der Zivilisation bedroht hatte. Trotz der großen Verluste an Menschen und Produktionsgrundlagen, die dieser Krieg für die UdSSR brachte, trotz ihrer Isolierung, in die sie zunächst durch den kalten Krieg nach seinem Ende gebracht wurde, hat sie diesen Rückschlag nicht nur erstaunlich rasch überwunden, sondern ist zur Weltmacht geworden. So wurde es ihr durch diesen Aufstieg möglich, auch die Entfremdungen wieder aufzulösen, die sich fast unvermeidlich in ihrem Aufbaustadium ergeben hatten und den Prozeß der Redemokra-tisierung ihrer kulturellen und politischen Struktur einzuleiten, in des-

sen Gegensätzlichkeiten sie nun steht.

Durch ihren Eintritt in das Konzert der großen Mächte hat sie die Struktur der Staatengesellschaft verändert. Wie einst der Sieg der amerikanischen und Französischen Revolution die Völkerrechtsgemeinschaft dadurch umgestaltet hat, daß sie künftig trotz der Zwischenstufe der

Helligen Allianz die Koexistenz monarchischer und demokratischer Staaten hinnehmen mußte, um am Ende den Sieg der Prinzipien der

bürgerlichen Revolutionen als fast selbstverständliche Grundlagen der eigenen Existenz zu akzeptieren, so beruht die gegenwärtige Völkerrechtsgemeinschaft nun auf der Koexistenz kapitalistischer und sozialistischer Staaten. Im Schatten dieser neuen Situation konnten die kolonialen Revolutionen ihren Siegeszug beginnen und den Herrschaftsbereich des Imperialismus zurückdrängen. Sie haben in China, in Nordkorea, in Nordvietnam und in Kuba den gleichen Weg beschritten, den die Oktoberrevolution gewiesen hatte: Die unmittelbare Kombination sozialistischer Prinzipien und industriellen Aufstiegs. Im unmittelbaren Bereich des militärischen Erfolges der UdSSR im zweiten Weltkrieg haben auch einige europäische Nationen den Weg zum Sozialismus betreten. Die spätkapitalistischen Gesellschaften waren um der Konkurrenz der sozialistischen Staaten willen genötigt, ihren Arbeitnehmern immer größere Konzessionen in bezug auf Lebenshaltung, Arbeitszeit und Annäherung an Vollbeschäftigung zu gewähren, weil sie sonst hätten befürchten müssen, daß die Arbeiterklasse dem russischen Beispiel gefolgt wäre. So hat die Oktober-Revolution im halben Jahrhundert ihrer Existenz und ihrer Machtbefestigung die Welt rascher verändert als sie in den ersten 50 Jahren nach 1789 verändert worden ist.

Was haben demgegenüber die ihrem Wesen nach nur taktischen Konflikte zu besagen, die diese gegenwärtige Situation zwischen den sozialistischen Staaten und im Verhältnis zwischen ihnen und der Arbeiterbewegung der spätkapitalistischen Länder und den kolonialrevolutionären Bewegungen tagtäglich hervorruft? Sie sind verständlich, auch wenn sie immer wieder neue (zum Teil unvermeidbare, zum Teil bei rationalerer Führung vermeidbare) Unkosten des weltgeschichtlichen Prozesses (wie einst im Stalinismus) erbringen, weil sie Divergenzen aktueller Tagesinteressen spiegeln. Wenn es aber gelingt, den Ausbruch eines dritten, nun atomaren Weltkrieges zu verhüten, werden sie die Gesamtentwicklung der Menschheit zu ihrer Einheit in Humanität und Freiheit kaum aufhalten können, die durch die Oktober-Revolution eingeleitet worden ist. WOLFGANG ABENDROTH

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