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Die Schranken müssen fallen 1

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Das Charakteristikum der europäischen Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts ist ihr Internationalismus. Der Appell des Kommunistischen Manifests an die Arbeiter der ganzen Welt verband sich in der ersten Zeit mit dem internationalen Humanismus eines Giuseppe Mazzini, der lehrte, daß im Zusammenwirken und in der Teilung der Arbeit das nationale Leben das Instrument, das internationale Leben aber das Endziel sei. Aber der Gedanke, daß das internationale Leben aus der Koordinierung der nationalen Aktivität resultiere, wurde bald vom Sozialismus unterminiert, als dieser Anstalten traf, die nationalen Grenzen im Namen des Klassenkampfes einer Arbeiterbewegung zu übersteigen.

■ Die Internationale konnte freilich weder den Krieg von 1870 verhindern, noch seinen Ausbruch verzögern, sie zerbrach sogar durch den Baku-nianismus, den Kardinal Mermillod in seinen berühmten Predigten in Paris „eine Armee“ nannte, „die vorwärts schreitet“, und „eine Kirche, die sich organisiert“.

In Wirklichkeit und in ihrer ersten Form hatte die Internationale 1889 aufgehört zu existieren; sie rekonstituierte sich später als Weltorganisation für die politischen Parteien sozialdemokratischer Prägung nach deutschem Vorbild, bis dann die russische Revolution die Dritte Internationale schuf.

Andere ähnliche Organisationen, deren Bildung bis in die jüngsten Tage reicht, entstanden im Bereich der Gewerkschaften. Obwohl die Stoßkraft des Internationalismus gerade in entscheidendsten Augenblicken der europäischen Situation versagte, dürfen die Gründe dieses Unvermögens nicht überraschen. Ueber-raschender ist hingegen, daß diese Unfähigkeit sich auch auf dem eigentlichen internationalen Sektor, sogar auf dem übernationalen Sektor zeigt, so z. B. hinsichtlich der Vereinigung von Europa. Die Unfähigkeit, Starrköpfigkeit der Nationen, sich zur europäischen Zusammenarbeit zu entschließen, hat alle internationalen Bewegungen an ihrer Entwicklung gehindert. Auch die christlichen Gewerkschaften, die später in die Kampfarena stiegen, wurden von der nationalistischen Flut zur Untätigkeit verurteilt. Auch die Parteien christlicher Aspirationen, wie sie in den verschiedenen Parlamenten vertreten sind, haben kaum eine Methode gefunden, dem Friedensippellen des Papstes gerecht zu werden.

In Zeiten des Wiederaufbaues sind es sfets die christlichen Gruppen, die sich in der ersten Reihe befinden, um am europäischen Gedanken konstruktiv mitzuwirken. Es fehlen sicher auch nicht die Vertreter des demokratischen Sozialismus, aber wie immer

* Auf der internationalen Universität für Sozialstudien in Rom hielt kürzlich der Führer der großen christlichen Partei in Italien, Degasperi, einen hochbedeutsamen Vortrag über „Internationale Arbeiterbewegung und europäische Arbeiterbewegung“, d*n wir'“ im folgend wiedergeben. haben diese Anhänger der internationalen Kooperationen, haben die nationalen Bewegungen der Sozialisten diesem Appell niemals-ent-sprochen, haben sie nie aus der Geschichte gelernt.

Als die Notwendigkeit einer europäischen Bewegung offenbar wurde, zeigten sich die englischen Labouristen, damals Regierungspartei, zwar sehr interessiert im Hinblick auf die Beziehungen zum Commonwealth, waren jedoch im Grunde mit der Sorge beschäftigt, daß ihre Macht in einem vereinigten Europa geringer werden könnte. Die französischen Sozialisten wieder reagierten negativ aus Furcht vor einer Wiedergeburt Deutschlands. Die Kommunistische Internationale wieder hinderte die Arbeiterbewegung auf ihrem Marsch für ein vereinigtes Europa oder wünschte sie nur in dem Sinn, daß diese Vereinigung Teil der natürlichen und historischen Entwicklung für ein höheres Endziel sei.

Die Arbeiterklasse in Europa hat jedoch ein eigenes Gesicht, das aus der Konfrontation zwischen dem europäischen Arbeiter, dem amerikanischen Arbeiter und dem russischen Werktätigen resultiert. ...

In A m e r i k a hat sich der Arbeiter in einem fast unbeschränkten Raum und mit immer neuen Mitteln entwickelt. In den Vereinigten Staaten ist die Gleichheit des Rechtes die Grundlage der politischen Demokratie, gleichzeitig verbunden mit der Gleichheit der Startebene in wirtschaftlicher Hinsicht. Der Amerikaner fühlt sich in allen sozialen Gruppen gleich wohl, weil er die Hoffnung hat, von der einen in die andere hinüberwechseln zu können. Die Einigkeit der amerikanischen Gesellschaft beruht auf der Hoffnung, daß jeder, ob früh oder lang, an den Vorteilen der kapitalistischen Gesellschaft Nutznießer sein kann. Der amerikanische Individualismus schöpft seine Kraft aus der spezifischen Un-erschrockenheit der Kolonisatoren und aus der Tatsache, daß er in der Dynamik eines großen Marktes und des steigenden Konsums dazu beitragen kann, das Sozialprodukt zu erhöhen. In einer so- geformten Gesellschaft beschränkt sich die syndikalistische Bewegung lediglich auf Lohnagitationen, die keineswegs eine politische Dynamik enthalten. Sie stehen als nex*-traler Organismus, sozusagen als Ausdruck des Solidarismus der Konsumenten und Produzenten da.

Vollkommen entgegengesetzt ist der soziale Typus des russischen Arbeiters. Wie alle Klassen in der russischen Geschichte ist auch die moderne russische Arbeiterklasse ein Produkt der politischen Macht. Adel und Bürgertum aus der Zeit des Zarismus wurden von der Intelligentsia abgelöst. Sauerteig auf russischem Boden ist nur die städtische Bevölkerung gewesen, die jedoch im Hinblick auf die ungeheuren Ausdehnungen der Räume in Rußland über keinen kollektiven Impuls verfügte. Industrie und Arbeiterschaft waren daher am Beginn und im Verlauf ihrer ersten Entwicklung eine Minorität, die von einem politischen Machtsystem im Rahmen eines planmäßigen Aufbaues allmählich entwickelt wurde. In diesem Planbereich wurde der einzelne nicht als Endziel, sondern nur als Instrument der. Kollektivität betrachtet. Man kann keineswegs ableugnen, daß der russische Kollektivismus ein Ausfluß historischer zwiespältiger Bedingungen ist, daß er die Notwendigkeit einer Kontinuität der Beziehungen zwischen Staat und Mensch fördern muß, und man muß zugeben, daß der russische Kommunismus auf dem technischen Plan im 20. Jahrhundert das reproduziert, was sich analog in vergangenen Jahrhunderten abgespielt hat.

Unter diesen historischen Bedingungen ist es auch nötjg, die Beziehungen zwischen Staat und Kirche zu betrachten. In Rußland, sei es unter der Herrschaft der Ruriks oder Moskaus, dominierte immer das System des Cäsaropapismus, der Vereinigung kirchlicher und weltlicher Macht. Und diese feudale Herrschaft wirkt weiter fort. In der ganzen moskowitischen Geschichte wird man vergebens einen Gegensatz zwischen Staat und Kirche finden, der also dem Einzelindividuum die Alternative geboten hätte, sich für jenes oder dieses zu entscheiden. Es war immer ein monolithischer Machtblock.

Auch die Revolution kam nicht aus einer internen Dialektik, sondern durch fremden Einfluß. So hat der Totalitarismus des politischen Systems nur das Gesicht, nicht das Wesen geändert. Das Individuum blieb nach wie vor unpersönlich, eine Nullität, mit einem Wort der Typus des russischen Arbeiters, dessen Beziehungen zur Kollektivität sich nicht modifizierten.

Und nun begegneten. sich der Typus des europäischen Arbeiters mit dem Typus des amerikanischen und mit dem jüngsten Typus des bolschewistischen Arbeiters, und aus die-! ser Begegnung ergeben sich einige Charakte-i ristiken der europäischen Arbeiterklasse. Ein Wiener Schriftsteller, Ludwig

Reichhold, hat in einem jüngst erschienenen Buch diese Tatsache der Begegnung zu Ende gedacht und analysiert, und, wenn auch seine Voraussagen und seine Ableitungen nicht in allen Punkten überzeugen, sind einige Konklusionen des Autors ohne weiteres zu akzeptieren.

Der europäische, lohnabhängige Arbeiter mußte versuchen, seine Rechte in einem beengten und unzureichenden Raum zu verteidigen, entsprechend einer industriellen Entwicklung,, die bald forciert, bald gehemmt wurde, gegenüber einem Bürgertum, das einmal egoistisch, ein andermal erschreckt, aber nur selten erleuchtet war. Der europäische Arbeiter wurde dann an die politische Macht getragen, meistens aber nur dann, wenn die Wirtschaft blühte. Aber der europäische Arbeiter ist von Kampfgeist erfüllt und läßt sich leicht aus dem Bereich praktischer Forderung in die Doktrin des Klassenkampfes lenken. Obwohl der ökonomische Raum und die ihm zur Verfügung stehenden Mittel gering waren, endete der nationale Klassenkampf in den meisten Fällen mit der Eroberung der politischen Macht.

Daher kommt der überwiegende Einfluß der Politik in den syndikalistischen Bewegungen Europas und das Schlagwort von „Zuerst die Politik!“ in die sozialistischen Bewegungen. Und hier ist schon ein charakteristischer Unterschied festzuhalten zwischen dem europäischen und dem amerikanischen Arbeiter. Aber ein noch tieferes historisches Element bietet sich unseren Betrachtungen. Die europäische Gesellschaft, so kontrastreich sie sich heute unseren Augen darbietet, erkennt ihren Ursprung, den Ausgang ihrer Entwicklung nicht im Staat, nicht in der Kollektivität, sondern im Menschen, in der menschlichen Persönlichkeit. Hier ruhen die Quellen christlichen und humanitären Geistes. Europa wurde aus hier nicht näher auszuführenden Gründen eine Gemeinschaft des Geistes, die die Grenzen der Politik und des Blutes überschreitet. Hier beruht, metaphysisch gesprochen, einer der Hauptunterschiede zwischen der europäischen Arbeiterbewegung und jener anderer Staaten. Der Geist, der diesen Humanismus hervorgebracht hat, und das Licht, das in der Finsternis des Materialismus leuchtet, hat bisher verhindert, daß die Person des Arbeiters in ihrer persönlichen und geistigen Freiheit geknebelt wurde. Um diesen Besitz zu sichern, muß man der europäischen Arbeiterbewegung mehr Aktivität zubilligen und ihr mehr Raum zur Entwicklung geben. Oekonomisch gesprochen, müssen die nationalen Grenzen, die die Zirkulation der Arbeit, des Kapitals und der Märkte behindern, fallen. Noch ist Boden hier, der auf Bearbeitung wartet, während anderswo die Hände ruhen müssen. Hier gibt es gewerbliche Erzeugnisse, die keinen Markt finden und hier wieder Märkte, die ohne Erzeugnisse sind. Durch eine Umorginis'ation wäre es auch möglich, die Produktionskosten zu senken und die Massenproduktion für Massenerzeugnisse zu heben. Verbote, Prorektionismus, Kontingentierung, Hemmungen des Geldkreislaufes schaffen noch immer eine“ chaotische Situation. Man bedenke, daß in den Ländern des europäischen Westens die Kaufkraft zwischen einem Drittel und einem Viertel der Kaufkraft der amerikanischen Konsumenten Hegt. In Straßburg wurden Produktionsziffern von 1950 bekanntgegeben: Darnach haben die USA mit 140 Millionen Einwohnern Waren im Wert von 260 Milliarden Dollar produziert. Die der OEEC angeschlossenen europäischen Länder mit 240 Millionen Einwohnern produzierten Waren im Wert von 160 Milliarden Dollar, wobei zu bemerken ist, daß, wenn diese Menschen unter den gleichen Bedingungen wie die Amerikaner arbeiten würden, sie Waren im Werte von 400 Milliarden Dollar hervorbringen müßten.

Es ist klar, daß Europa für den Arbeiter eine Schicksalsfrage seiner weiteren Entwicklung ist. In einer künftigen Entwicklung wird das Vereinigte Europa ein Arbeits- und Produktionspotential darstellen, das mit auch noch reicheren Kontinenten in Konkurrenz treten kann. So könnte der europäische Arbeiter positive Charakteristiken der amerikanischen Bewegung sich aneignen, ohne seine eigene Geschichte zu verraten. Unter den Prinzipien, denen er treu bleiben muß, zählt das Bedürfnis, die Würde des Menschen geachtet zu sehen, den Wert der Freiheit als unabweisbare Grundlage der Toleranz. Diese geistigen Bedingungen und politischen Konklusionen, unberührt von regionalen und nationalen Polemiken,, würden sein Beitraj zur Konstruktion Europas sein. Es ist daher nicht notwendig, die Hoffnung zu verlieren, daß das vereinigte Europa ein Ausgleichszentrum zwischen dem Privatkapitalismus und dem Staatskapitalismus, ein Experimentierfeld der Zusammenarbeit zwischen Kapital und Arbeit wird. In diesem sozialen Raum würde die Kraft der beiden Blöcke neutralisiert werden. Gewiß wird die-Nation in jedem Stadium der Entwicklung die erste Basis darstellen, aber die Arbeiterklasse bedarf für ihre Aufgabe eines breiteren Feldes. Arbeiten wir, auch wir Katholiken, an dem Zustandekommen dieses Zieles. Unser Wollen und unsere Partei ist nur ein kleiner Teil der ungeheuren Kraft, die die Welt der Arbeit im Sinne ihrer historischen Entwicklung bewegt.

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