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Die Seiltänzer

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Der politische Karikaturist1 des „Figaro“, Jacques Faizant, hat die innenpolitische Situation Frankreichs mit einigen Strichen charakterisiert: auf einem Seil balancieren die Chefs der nicht-kommunistischen Linken, der'einstige Präsident der demokratischen und sozialistischen Föderation, Francois Mitterand, und der Generalsekretär der Sozialistischen Partei, Savary. Zwei Männer, mit wuchtigen Netzen ausgerüstet, erwarten den Sturz der kühnen Akrobaten. Es sind dies der Ministerpräsident Chaban-Delmas und der stellvertretende Generalsekretär der Kommunisten, Marchais.

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Der politische Karikaturist1 des „Figaro“, Jacques Faizant, hat die innenpolitische Situation Frankreichs mit einigen Strichen charakterisiert: auf einem Seil balancieren die Chefs der nicht-kommunistischen Linken, der'einstige Präsident der demokratischen und sozialistischen Föderation, Francois Mitterand, und der Generalsekretär der Sozialistischen Partei, Savary. Zwei Männer, mit wuchtigen Netzen ausgerüstet, erwarten den Sturz der kühnen Akrobaten. Es sind dies der Ministerpräsident Chaban-Delmas und der stellvertretende Generalsekretär der Kommunisten, Marchais.

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Wir vermissen allerdings einen Seiltänzer, den Senkrechtstarter J.-J. S.-S. recte Jean-Jacques Ser-van-Schreiber, Exherausgeber der auflagestarken Zeitschrift „Express“, glücklicher Kandidat im Wahlkreis Nancy und geschlagener Mini-Kennedy in der Stadt Bordeaux. Nachdem der allmächtige Vater der Fünften Republik unter Anteilnahme der gesamten Welt seine letzte Ruhestätte gefunden hat, regen sich die politischen Kräfte des Landes, tasten Abgeordnete ihre Gegner ab, konstruieren Allianzen, kombinieren, hoffen, bauen auf alte Freundschaften und suchen die Plattform für die in einigen Monaten ausgeschriebenen Gemeinderatswahlen zu erweitern. Der Barde de Gaülles und geniale Dichter Andre Malraux hat mehr als einmal den Satz wiederholt: Frankreich könne nur zwischen uns, also den Gaullisten, und den Kommunisten wählen. Die Karikatur Fad-zants nimmt diese Behauptung auf, indem sie der nichtkommunistischen Opposition eine gewisse Marschroute vorschreibt. Entweder erreiche sie in irgendeiner Form die Mehrheit. Chaban-Delmas hat des öfteren eine Erweiterung seiner Regierung bis zur äußersten Grenze der Mitte links proklamiert und damit sichtlich an eine Beteiligung der Sozialisten gedacht. Die Kommunisten wiederum wissen zu gut, wie sehr sie in ihrer Taktik auf das sozialistische und progressiv-christliche Lager angewiesen sind. Seitdem die .dritte Kraft“, zusammengesetzt aus MRP,

Sozialisten und Radiikalsoziailisten, im Mai 1958 gestorben ist, bewegen s.ich alle Gedanken um die einzige Alternative. Sammlung der Mitte links, also Allianz zwischen Katholiken und Sozialisten oder die Bildung einer Volksfront, deren Schwergewicht zweifellos beim bestorganisierten Partner, den Kommunisten, liegt.

Nur zwei Männer wünschten diesem Zwang der innerapolitischein Geographie auszuweichen und eine eigenständige Alternative zum gaullistischen Regime und der Kommunistischen Partei zu schaffen. Es waren und sind dies J.-J. S.-S. und Fran-gois Mitterand, Gegenkandidat de Gaulies im Jahre 1965 und Schöpfer eines organisierten Bündnisses zwischen Radikalsozialisten, Sozialisten und der Konvention der Klubs. Diese Persönlichkeiten erkennen, daß sie über den eingefahrenen Parteiapparat triumphieren müssen, um ihr Ziel zu erreichen. Dank dem Wirken General de Gaulles und Pompi-dous gewöhnten es sich die Franzosen an, weniger Parteien als bestimmte Kandidaten zu wählen. Servan-Schreiber hat sowohl bei den Nachwahlen in Nancy wie in Bordeaux die eigene Partei überrundet und zog, nur unterstützt von einem ergebenen Generalstab, in den Kampf. Mitteramd, der praktisch seit Jahren geschwiegen hat und dessen Karriere vielfach als beendet angesehen wurde, entwickelte knapp vor dem Tode General de Gaulles eine originelle Initiative. Er schlug die

Gründung einer „nationalen Delegation für die sozialistische Einheit“ vor, um die nichtkommunistischen Parteien, Gruppen und Klubs in einer neuen Partei zu vereinigen. In den letzten Monaten akzeptierte die Nation einen Oppositionssprecher in der Person des Abgeordneten von Nancy, der zahlreiche Hoffnungen erweckte und zu ebenso zahlreichen Polemiken Anlaß gab. Verschiedene Meinungsumfragen beweisen», wie sehr J.-J. S.-S. an Popularität verloren hat (bejahend 43 Prozent im April 1970, 28 Prozent dm Oktober). In seiner Partei stößt er auf die Gegnerschaft eines konservativen Flügels unter Führung des früheren Obmanns Billere. Es mag verwundern, in welchem Ausmaß dieser intelligente Politiker Fehler über Fehler setzt und nationale Gefühle herausfordert. Als einziger bezeichnete er die Begräbniszeremonien für General de Gaulle als „exzessiv“ und brachte damit einen Mißklang in diese unwahrscheinliche Sammlung des Volkes. Die Provinizsektion der radikaisozialistischen Partei Lothringens veranstaltete eine Tagung, schmückte bewußt den Saal mit den Fahnen Lothringens und Europas, während der Trikolore das Heimatrecht versagt wurde. Mag auch die Heftigkeit, mit der Servan-Schreiber das bisher übliche Staatskonzept der Fünften Republik angriff, aus der Oppositionssteliung heraus verständlich sein, so war der Zeitpunkt unigünstig gewählt. Am 5. Dezember wird sich Servan-Schreiber vor dem Kongreß der Radikaisozialistischen Partei verantworten. Es steht bereits heute fest, daß der Senkrechtstarter heftig beschossen wird.

Dieser schnelle Abstieg des Jungpolitikers veranlaßte das bewährte Scblachtroß der Vierten und Fünften Republik, Mitterrand, nach der Krone des Oppositdonschefs zu greifen. Während die Kurve Schreibers sinkt, anerkennt die öffentliche Meinung in Mitterand den einzig möglichen Kandidaten, um die zerklüftete Opposition zu sammeln und ihr ein modernisiertes und attraktives Image au vermitteln. Mitterand ist eindeutig: Gelingt es nicht, die 45 Prozent der Wähler, die stets seit Bestand der Fünften Republik gegen das Regime stimmten, zu organisieren, wird Frankreich dn den nächsten 50 Jahren von den zwei Mehrheitsparteien regiert, also der gaullistischen UDR und den liberalen Unabhängigen Giscard d'Estaings. Niemals könne die Kommunistische Partei allein eine solche Macht bekämpfen. Die bisherigen Kontaktgespräche zwischen Sozialisten und Kommunisten — eine erste Bilanz wird in den kommenden Wochen veröffentlicht — hat mit der Feststellung der ideologischen Unterschiede geendet.

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