Die Solidarität schlägt sieder zu

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In Polen kocht ein Streit über eine umstrittene Justizreform. Nun greift auch die EU-Kommission ein - sie reagiert damit auch auf die Proteste im Land. Denn die Aktivisten arbeiten immer besser zusammen.

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In Polen kocht ein Streit über eine umstrittene Justizreform. Nun greift auch die EU-Kommission ein - sie reagiert damit auch auf die Proteste im Land. Denn die Aktivisten arbeiten immer besser zusammen.

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Es ist ein Sinnbild des zivilen Ungehorsams: als Richterin Małgorzata Gersdorf, Präsidentin des Obersten Gerichts (SN) des Landes, am 4. Juli zur Arbeit kommt, wird sie am Eingang des Gerichts im Zentrum Warschaus von mehreren Hundert Menschen frenetisch bejubelt. "Verfassung! Verfassung!", rufen die Menschen, während sie gleichlautende Schilder in die Luft halten. Gersdorf ist zu diesem Zeitpunkt, geht es nach dem Willen von Polens regierender Recht und Gerechtigkeit (PiS) und Staatspräsident Andrzej Duda, bereits Pensionärin. So will es ein im April dieses Jahres verabschiedetes Gesetz, demnach oberste Richter am 3. Juli mit 65 statt bisher 70 Jahren in den Ruhestand gehen müssen. Kritiker des Gesetzes verweisen auf Art. 183 der Verfassung, in der von der Nichtabsetzbarkeit der SN-Präsidentin die Rede ist.

Zivilgesellschaftliche Gruppen und Protestformationen hatten Gersdorf und ihre Kollegen seit Wochen unterstützt. "Politiker der PiS-Partei verbreiten die Auffassung, dass Gerichte nichts anderes sein sollen als die Verkörperung des Volkswillens, den sie als Regierung vermeintlich repräsentieren - aber da sind wir schon sehr nahe bei der faschistischen Ideologie", sagt Magdalena Pecul-Kudelska. Die Aktivistin engagiert sich erst seit Kurzem in der Vereinigung "Bürger der Republik", Obywatele RP. Die Initiative ist nur eine unter der wachsenden Zahl der immer agileren zivilgesellschaftlichen Organisationen, in denen sich immer mehr bisher apolitische Bürger Polens organisieren. So unterschiedlich ihre Beweggründe sind, sie alle sehen eine immer größere Gefahr für die Freiheit in ihrem Land. So hatten rund 120 Organisationen in der Frage des Obersten Gerichtes einen Aufruf an die EU-Kommission gestartet, gegen das SN-Gesetz vorzugehen - und vor dessen Sitz in Warschau einen kreativen Protest organisiert: die rund 1000 Teilnehmenden sangen die Europahymne mit einer Zusatzstrophe, in der es heißt, Gott möge mithilfe des Instruments der EU auch die Gerichte Polens schützen.

Proteste mit Folgen

Die Proteste in Polen haben in Brüssel offenbar Eindruck hinterlassen. Anfang Juli hat die EU-Kommission entschieden, wegen des Gesetzes zum Obersten Gericht ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen einzuleiten. Polen hat bis Anfang August Zeit, Stellung zu beziehen, bevor weitere Schritte kommen und den Fall vor den Europäischen Gerichtshof (EuGH) bringen könnten. An dessen Voten hat sich die PiS bislang gehalten. Doch das besagte Gesetz zum Obersten Gericht ist der PiS ungleich wichtiger - in den Gerichten sieht sie die Grundlage für ihre radikalen Staatsreformen. "Der Postkommunismus wurde bei uns nicht überwunden, daher kämpfen wir mit dem Postkommunismus, indem wir das Justizsystem reformieren", sagte Ministerpräsident Mateusz Morawiecki zur Verteidigung der Justizreform vor dem EU-Parlament am 4. Juli.

Der Widerstand gegen eine von solchem Paradigmen geleitete Politik macht die PiS aber inzwischen nervös. Die öffentlichrechtlichen Medien, die von PiS-Getreuen dominiert werden, machen Stimmung gegen die Protestler. Die "Bürger der Republik", für die sich Chemikerin Pecul-Kudelska engagiert, haben gar ein Gerichtsverfahren am Hals. Kläger ist das Innenministerium, das den Vorstand der Obywatele-Stiftung unter dem Vorwand austauschen will, die Organisation rufe zu Gesetzesübertretungen auf und beleidige "in ihrer Aktivität und den verwendeten Materialien legal und demokratisch arbeitende Organe der öffentlichen Verwaltung". In der Tat schreiben die Aktivisten in ihrer "Deklaration des Ungehorsams":"Ich, BürgerIn der Republik Polen, verweigere einem Staat, der durch seine höchsten Repräsentanten die bürgerlichen Freiheiten mit Füßen tritt, den Gehorsam." Denn in Polen geht es längst nicht nur um die Justiz.

Für Werte einstehen

In den letzten Monaten immer wieder Proteste oder Unterschriftenkampagnen im ganzen Land organisiert: gegen die Justizreformen, gegen die geplante Verschärfung des Abtreibungsrechts, gegen die Rodung des Białowiez a-Urwalds, gegen eine nationalistische Geschichtspolitik. Eine der aktivsten Nichtregierungsorganisationen ist die "Aktion Demokratie". Die Warschauer Aktivisten der Aktion arbeiten, gut drei Jahre nach ihrer Gründung, inzwischen hoch professionell. Finanziert vor allem mit Kleinspenden sowie Mitteln aus in-und ausländischen Stiftungen, organisieren ein gutes Dutzend fester Aktivisten und etliche Freiwillige von ihrem Warschauer Büro aus Unterschriftenkampagnen und Straßenproteste. Monika Matus ist eine von ihnen, am Tag der Demo verteilt sie Banner, auf denen steht "EU -lass nicht nach" und auf Englisch: "No political Judges". Matus beobachtet eine interessante Entwicklung. "Es konstituiert sich eine Art gesellschaftliche Bewegung, wir sehen eine Erneuerung, und den Wunsch zu protestieren, auf die Straße zu gehen, und für Werte einzustehen, die den Menschen wichtig sind", sagt sie. Zugleich rechnen nicht nur sie und ihre Mitstreiter damit, dass die Regierung weiter den Lockungen erliegen wird, die Rolle und vor allem den Wirkungsgrad von Nichtregierungsorganisationen einzuschränken - erklärtes Vorbild ist dabei Ungarn. "Wir haben solche Versuche bereits erlebt", sagt Matus. "Wir haben aber die Hoffnung, dass die polnischen Organisationen, sollte es so weit kommen, solidarisch sein werden."

Die Solidarität, so könnte man auf Basis der jüngsten polnischen Geschichte meinen, müsste eine Spezialität des Landes an der Weichsel sein. Tatsächlich nutzte der einstige Solidarnos´c´-Führer Lech Wałe¸sa seine Bekanntheit für einen Aufruf an die in Warschau aufspielenden Rolling Stones, sich mit den Gegnern der Justizreformen zu solidarisieren -was diese tatsächlich taten. Von der einstigen Solidarno´s´c-Bewegung indes, die in den Jahren 1980 und 1981 das sozialistische Regime herausgefordert hatte, ist bis heute nur die PiS-nahe Gewerkschaft mit dem gleichen Namen geblieben. Karol Modzelewski, Oppositionsikone und Namensgeber der Bewegung, sagt, dass der "Mythos der Solidarnos´c´ von 1980/81 nach 1989 für neoliberale Reformen benutzt und verschlissen" wurde.

Verschlissene Solidarnosc

Auch daher, sagt der 80-Jährige, sei die PiS an die Macht gekommen. "Die PiS könnte auch die Parlamentswahlen 2019 ohne Wahlmanipulation gewinnen. Sollte die Partei eine Zweidrittelmehrheit anstreben wollen, mit der sie die Verfassung ändern könnte, schließe ich Wahlfälschungen nicht aus." Dazu könne sie auch das Oberste Gericht benutzen -dieses ist für die Bearbeitung von Wahlbeschwerden zuständig.

Gegen diese Gefahr schreiben nicht nur etablierte, regierungskritische Medien an - sondern auch die Medieninitiative Oko. press. Seit nunmehr zwei Jahren versuchen ein gutes Dutzend meist junger JournalistInnen bei Oko, Lügen und Propaganda von Regierung und Opposition zu enttarnen. Oko finanziert seinen Ansatz durch Spenden und Abonnements. Inzwischen haben sich die Oko-Macher viel Renommee erarbeitet und mit fast einer Million Seitenaufrufen pro Monat eine beachtliche Reichweite. "Die fast drei Jahre PiS-Regierung und ihre Angriffe auf demokratische Errungenschaften, von denen viele Menschen dachten, sie seien nicht mehr antastbar, wie etwa das Justizwesen, motiviert viele Menschen, zu überprüfen, woran sie eigentlich glauben", sagt Bartosz Kocejko. Der Journalist ist zuversichtlich. "Die demokratische Debatte in Polen ist auf einem Level, wie es noch nie der Fall war -das ist das Paradoxe an dem Wirken dieser Regierung."

Es sei zwar nur ein Teil der Gesellschaft, aber es sei Fakt. Wie stark diese Debatte letztlich auch Einfluss auf die EU-Kommission hatte, das Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten, lässt sich kaum messen. Erst die kommenden Monate werden zeigen, ob die Proteste im Verbund mit dem Druck der EU den Justizreformen den Zahn ziehen können.

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