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Die Sorgen um Italiens Zukunft sind eigentlich unbegründet

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Wemgen europaischen Kernländern steht der informierte Oster-reicher zur Zeit ratloser gegenüber als Italien. Was dort in den letzten fünf Jahren ablief, scheint nichts von dem zu ähneln, was wir in der europäischen Geschichte über die Jahrhunderte hinweg so erlebt haben. Ein ganzes politisches System, das sich seit rund 50 Jahren solide etabliert zu haben schien, wurde Teil für Teil zerstört und schließlich zerbrochen. Und das nicht von blutroten Revolutionären und auch nicht von bluttriefenden faschistischen oder militärischen Diktatoren, sondern von Richtern. Einfachen Karriererichtern, die ihr Leben aufs Spiel setzten, um dem Recht genüge zu tun, Richtern, von denen viele in Ausübung ihres Berufes ermordet wurden.

Das neue Italien ist wohl der erste Staat der Erde, in dem eine gesellschaftliche Bevolution vom ehrlichen Teil der Richterschaft durch korrektes und unabhängiges Ausüben ihres Berufes herbeigeführt wurde. Die Menschen sind daran gewöhnt, daß es Richtern in unseren Gesellschaften keineswegs immer gelingt, den Mächtigen gegenüber die Gesetze so anzuwenden wie gegen den kleinen Mann, wenn ihnen so etwas je in den Sinn kommen sollte.

Jens Petersen, stellvertretender Direktor am Deutschen Historischen Institut in Rom, hat in seinem Buch „Quo vadis, Italia?” versucht, die Vorgänge in Italien und ihre Wurzeln offenzulegen. Es sei von vornherein bemerkt, daß er sich auch nicht zu einer definitiven Einschätzung der Aktion der Bichter durchringen kann. Haben die Richter einen Staat zerstört, nur um einem ethisch zweifelhaften Großunternehmer mit neofaschistischem Rückhalt den Weg zur Herrschaft freizumachen? Dazu übergeht der Autor auch noch das Faktum, daß die Vorgangsweise der Richter nicht möglich gewesen wäre ohne den amerikanischen Druck -zur Bekämpfung der Mafia, der erst zu jenen gesetzlichen Maßnahmen führte, welche es den Bichtern ermöglichten, auch gegen korrupte Politiker vorzugehen.

Der Überblick, den Petersen über die jüngere italienische Geschichte gibt, bringt eine Fülle von solider Information, gut lesbar und auf knappstem Baum. Wie überall besteht auch in Italien ein enger Zusammenhang zwischen aktuellen Ereignissen und der geschichtlich gewachsenen kollektiven Erfahrung und damit Mentalität. Petersen arbeitet diese vielfachen Bezüge klar heraus.

Alles andere als unanfechtbar ist hingegen seine Grundeinstellung, es gebe nichts Besseres als den zentral i-stischen Nationalstaat. Sicher, in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts und noch ein paar Jahrzehnte danach galt dies als feste Selbstverständlichkeit, die nicht erklärt zu werden brauchte. Wir sind aber mitten in einer globalen Diskussion, bei welcher der Nationalstaat der alten Fassung eher schlecht davonkommt. Von autonomen Begionen wird heute viel mehr gesellschaftliche Innovation erwartet als von den zentralistischen Kolossen.

Petersen zitiert viele prominente italienische Philosophen und Publizisten, die den Niedergang des Zentralstaates beklagen. Für viele italienische Intellektuelle, die die volle Auswirkung des ersehnten jakobinischen

Zentralismus nie erleben konnten, bleibt der italienische Einheitsstaat ein erstrebenswertes Ziel. Wer als Deutscher zu seinen Lebzeiten im eigenen Land totalen Zentralismus und dezentralisierten Bundesstaat in ihren praktischen Auswirkungen beobachten konnte, sollte da schon etwas mehr Distanz aufbringen. Daß die Zentralstaatswerdung Italiens niemals voll gelang, wird von Petersen als Grund-übel gesehen, von dem sich alle anderen Übel ableiten lassen, inklusive der Mafia. Ohne die starke Zentralgewalt könne eben nichts entstehen als Unmoral und Chaos.

Gleichzeitig bietet Petersen jedoch als aufmerksamer, einfühlender Beobachter selbst genügend Informationselemente, die an dieser These zweifeln lassen. Es scheint eher so, als würden sich die Italiener instinktiv und systematisch gegen eine überdrehte Zentralisierung wehren, die, aus Frankreich importiert, weder ihrer Geschichte noch ihrer Mentalität entspricht. Anschaulich verweist Petersen auf die durchwegs verunglückten Anläufe, das Land in die zentrali-stische Zwangsjacke zu pressen und „nachdem Italien geschaffen wurde, den Italiener zu schaffen”.

Gerade weil die lokalen Traditionen so stark waren, verwandelte sich jedes dieser Unternehmen stets in das Bestreben einer mehr o'der weniger regional definierten Gruppe, die Herrschaft über das restliche Land zu ergreifen. Es begann praktisch mit dem Piemontesischen Haus Savoyen, das Ziel wurde weder von den Pie-montesen noch von ihren faschistischen und republikanischen Nachfolgern voll erreicht.

Den Gegenbeweis für den Glauben an die heilbringende Zentralgewalt scheinen mir die Daten zu liefern, die Petersen in bezug auf die italienische Wirtschaft und Staatsverschuldung bringt. Tatsächlich gehört die italienische Wirtschaft zu den am besten funktionierenden Wirtschaften Europas. 1994 betrug der Exportüberschuß umgerechnet rund 280 Milliarden Schilling. Auf der anderen Seite gibt es zwar eine enorme Staatsschuld, die aber vor allem eine innere Schuld ist, also staatliche Schuldverschreibungen, die von Italienern gehalten werden. Das Primärdefizit, also der Abgang im Staatshaushalt ohne historische Schuldenlast und Zinsendienst, wurde bereits beseitigt und hat sich in einen Überschuß verwandelt, der 1992 bei 120 Milliarden Schilling lag und ständig steigt. Eigentlich wäre die italienische Gesellschaft also eine sehr gesunde Gesellschaft.

Die übermäßige Staatsschuld entstand wie überall in Europa ab den sechziger Jahren. Die Parteien, die nun in sich zusammenstürzten und deren ehemalige Führer zu einem großen Teil unter Anklage wegen krimineller Vergehen stehen, haben von der Bevölkerung Geld geborgt, um zuerst sich selber und darüber hinaus auch stetig steigende Sozialleistungen zu finanzieren, so daß heute etwa normal geworden ist, mit 45 oder 50 Jahren in Pension gehen zu können. Solcherart hat Italien in den letzten Jahrzehnten nur übertrieben, was in den meisten europäischen Ländern außer der Schweiz gelaufen ist. Nur in der Schweiz, wo die Bürger darüber entscheiden, wieviel Defizit der Staat machen darf, sind diese Schulden kaum der Rede wert. Man hat nicht den Eindruck, die Schweizer lebten deshalb schlechter.

Wie so viele Publizisten demokratischer Länder steht auch Petersen der

Entwicklung Italiens für die weitere Zukunft mit Mißtrauen gegenüber. Mißtrauen vor allem deshalb, weil er trotz dem Beispiel von Bichtern und vielen anderen Beteiligten, die ihr Leben aufs Spiel setzten, nicht daran glauben kann, daß der gesellschaftliche Gesundungsprozeß über demokratische Meinungsäußerung laufen könne. Zu sehr seien doch alle Italiener jederzeit bereit gewesen, von der Korruption zu profitieren. Darin drückt sich ein erstaunliches Verkennen des demokratischen Prozesses aus, und vielleicht auch, ganz unterschwellig, zwar nicht der Wunsch nach einer Führerfigur, aber doch die Überzeugung, der gesellschaftliche Gesundungsprozeß bedinge eine starken Führung, die notwendig sei und deren Weisheit sich der Staatsbürger beruhigt überlassen könne.

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