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Das Internet der Dinge, smarte Fabriken, autonomes Fahren, IoT-Lösungen, Robotik, Drohnen. Boston gilt als Technologie-Metropole.

Erik Brynjolfsson ist kein Pessimist, doch sein ambivalenter Befund setzt einen wohltuenden Kontrapunkt zur euphorischen Messestimmung in Boston.

Boston. Eine leichte Meeresbrise weht über die Summer Street, Wasserdampf steigt aus den Heizkesseln neben der Post-Distribution, im schicken Sea port District ziehen Baukräne Luxus-Apartments und Bürotürme in die Höhe. Hunderte Geschäftsleute strömen in das Boston Convention Center, einem futuristischen Gebäudekomplex aus Glas und Beton, zu einer Technikkonferenz. Während draußen schwer beladene Fed-Ex-Trucks über die Brücke ruckeln, wird in den riesigen Hallen des Convention Centers die Zukunft verhandelt: das Internet der Dinge, smarte Fabriken, autonomes Fahren, IoT-Lösungen (Internet of Things), Robotik, Drohnen. Boston gilt neben San Francisco, Seattle und New York als Technologie-Metropole der USA. Hier ist das renommierte Massachusetts Institute of Technology (MIT) beheimatet, wo allein 4000 Wissenschaftler forschen.

Am MIT lehrt auch der Wirtschaftswissenschaftler Erik Brynjolfsson, der zusammen mit Andrew McAfee den Bestseller "The Second Machine Age" schrieb. Brynjolfsson ist an diesem Tag der Keynote-Speaker der Konferenz, die Werbetafel vor dem Convention Center kündigt seinen Auftritt an. Die Veranstalter haben dem Star-Ökonom eine monumentale Bühne bereitet: Das Publikum sitzt auf zwei gegenüberliegenden Tribünen, die Vortragsfolien werden auf riesigen Bildschirmen projiziert.

Von Steuererklärung bis Gurke

Brynjolfsson, der für seine Vorträge fünfstellige Summen kassieren soll, ist ein versierter Rhetoriker. Federnden Schrittes läuft er über die Bühne, wendet den Blick zu beiden Seiten des Publikums und doziert mit raumgreifenden Gesten über die Folgen der Automatisierung. Sein Ansatz lässt sich grob gesagt auf die These eindampfen, dass der Kuchen durch die Automatisierungsgewinne immer größer wird, die Ungleichheiten aber auch zunehmen.

Der Ökonom spricht von der "großen Entkopplung" der Produktivität durch Beschäftigung. Bis zum Jahr 2000 seien die Arbeitsproduktivität, das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf, die private Beschäftigung sowie das durchschnittliche Familieneinkommen im Gleichschritt gewachsen. Nach der Jahrtausendwende habe sich dieses Wachstum jedoch entkoppelt: Die Arbeitsproduktivität sei exponentiell gestiegen, veranschaulicht der Ökonom an einer Grafik, während das durchschnittliche Haushaltseinkommen stagniert sei. Künstliche Intelligenzen könnten heute viel schneller und billiger juristische Dokumente auswerten, Steuererklärungen bearbeiten und Gurken nach Güteklassen sortieren. Allein, an diesen Fortschritten partizipiere nur eine kleine Programmiererelite. Die Möglichkeit, mithilfe von 3D-Druck Produkte zu Null-Grenzkosten zu reproduzieren, habe die Tendenz, "Winner-takes-it-all-Märkte" zu schaffen, bei dem ein Monopolist den Markt kontrolliert und sich Wohlstand konzentriert.

Brynjolfsson ist kein Pessimist, doch sein ambivalenter Befund setzt einen wohltuenden Kontrapunkt zu einer euphorischen Messestimmung, deren Teilnehmer von der Idee beseelt sind, dass sich mit technologischen Lösungen so ziemlich jedes Problem der Welt lösen lasse. Vom Supply-Chain-Management bis zu Stauproblemen in Städten.

Anschauungsunterricht gibt es direkt vor der Haustür. Am Morgen staut sich der Verkehr an der South Station, wo Pendler aus Zügen strömen, eine Kolonne schwerer Autos schiebt sich zäh nach Downtown mit ihren historischen Backsteinhäusern. Wenn man sich die 5,7-Liter-Pick-ups anschaut, könnte man meinen, die USA seien schon früher aus dem Klimaabkommen ausgestiegen. "Wir haben ein Straßensystem, das eher für Kühe als für Menschen ausgelegt ist", sagte Jascha Franklin-Hodge, Bostons Chief Information Officer, einmal. Während in der Messehalle über selbstfahrende Lastwagen, Lieferdrohnen und Apps diskutiert wird, ist es hier das alte, analoge Amerika, das man antrifft. Aus den Kanaldeckeln über den Rohren der Heizkraftsysteme, die noch nicht durch irgendwelche Smart-Meter-Systeme reguliert sind, strömt Wasserdampf, in den rußigen Lieferanteneingängen stehen Freightliner-Lastwägen mit knallroter Kühlerhaube, die Fast-Food-Ketten mit Nahrungsmitteln versorgen.

Analoges Kulturgut

Der Truckfahrer ist ein Stück nationales Kulturgut in den USA, er gehört zum Inventar einer Autofahrernation, die das Auto seit jeher als Vehikel der Freiheit begriff. Doch während der Truck einst den Weg für die Mittelklasse ebnete, ist es heute ein Job für Billiglöhner. Der Konkurrenzdruck ist groß, durch die Automatisierung könnten die letzten Jobs wegrationalisiert werden. Die New York Times hat der sterbenden Profession kürzlich eine Doppelseite gewidmet mit Porträts von Truckfahrern, die sich wie "Wegwerfprodukte" fühlen und den Beruf ihren Enkeln niemals empfehlen würden. Wenn man die Trucker abschafft, so der Tenor, schafft man auch das Land ab.

Wenn man über den historischen Beacon Hill oder neben dem Boston Tea Party Museum flaniert, könnte man glatt nostalgisch werden: 1773 versenkte hier eine Gruppe junger Patrioten, angeführt vom späteren Präsidenten John Adams, 342 Kisten Tee im Hafen und zettelte mit dieser Protestaktion gegen die britische Krone die amerikanische Revolution an. In der altehrwürdigen Buchhandlung "Brattle Book Shop", die 1825 gegründet wurde und in deren Innenhof Porträts von Ikonen wie Franz Kafka oder Italo Calvino prangen, glaubt man einen Woody-Allen-Filmset zu betreten. Zerstreute Professoren mit zu großen Cordhosen stöbern in Technologie-Neuheiten, junge Studentinnen fragen nach klassischer Literatur. Der Besuch der Buchhandlung ist auch eine Selbstvergewisserung des Bildungsbürgertums in einer Stadt, in der es kaum noch Zeitschriftengeschäfte, dafür nur noch Fast-Food-Filialen gibt und bei der Kaffeehauskette Starbucks die gestapelten Exemplare der New York Times die einzigen Ladenhüter zu sein scheinen. Die meisten Erwachsenen informieren sich über Apps.

Der Deal mit den Daten

Die liberale Ostküstenmetropole sieht sich als Vorreiter in Sachen Datennutzung. Unter der Ägide des digitalaffinen Bürgermeisters Martin J. Walsh hat die Stadt Kooperationen mit dem Navigationsdienstleister Waze, der zu Google gehört, sowie dem Fahrvermittler Uber abgeschlossen. Der Deal: Die Stadtverwaltung teilt Waze Streckenschließungen mit, im Gegenzug erhält die Stadt Einsicht in den wertvollen Datenstrom. Die Verkehrsdaten beinhalten u. a. Live-Updates über Staus, Unfälle und andere Vorkommnisse. 2012 gründete Walsh das Institut New Urban Mechanics, das unter anderem das Projekt "Street Bump" auf die Beine stellte. Die App meldet automatisch Schlaglöcher an die Stadtverwaltung. Auf dem City Score können die Datenanalysten die "Performanz" in Echtzeit ablesen: wie viele Schlaglöcher es gibt, wie die Ampelschaltung funktioniert, wie viele Besucher gerade in Bibliotheken sind und sogar die Wahrscheinlichkeit von Schießereien. Der im vergangenen Jahr von Walsh berufene Chief Data Officer Andrew Therriault will mithilfe maschinellen Lernens bestimmte Ereignisse wie Demonstrationen oder Unwetter vorhersagen, damit die Behörden darauf besser vorbereitet sind. Die Vision ist, dass die Stadt zum Computer wird.

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