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Digital In Arbeit

Die Suche nach der Wahrheit

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Multimedia, Information-Highway, Internet, Cyberspace -mehr als alles andere revolutionieren die modernen Kommunikationstechnologien die Gesellschaft. Heute übertragen bereits rund 500 Satelliten Daten, Töne und Bilder rund um den Globus, weltweit senden rund 3.000 Fernsehkanäle, und das Wissen der Welt, das sich laut Schätzung von Experten alle fünf Jahre verdoppelt, ist in etwa 6.000 Datenbanken gespeichert. Die Entwicklungen des Informationswesens gehen so rasch vor sich, daß das Denken über die möglichen wünschenswerten oder nicht wünschenswerten Folgen dieser Kommunikationsrevolution hoffnungslos hinterherhinkt. Wir sind -ob wir es wollen oder nicht - in eine globale Kommunikationsgemeinschaft entlassen, die durch ein weltweites Netzwerk kommunikativer In-terdependenzen gebildet wird. Den Massenmedien und ihrer Leistung der Interpretation der Welt kommt vor diesem Hintergrund eine besondere verantwortungsvolle Aufgabe zu.

Wenn man beispielsweise heute zurückblickt und nach der Rolle der Medien, insbesondere des Fernsehens in den revolutionären Tagen des Zerfalls der ehemaligen DDR fragt, so überzeugt die Bilanz des Chefredakteurs des ZDF, Klaus Bresser: „Wir haben die Revolution weder provoziert noch gemacht. Aber als sie da war, haben wir sie beschleunigt. Das Fernsehen war nicht nur Zeuge. Es hat der Stimme des Volkes Öffentlichkeit verschafft und damit der Revolution weitergeholfen. Allein, daß unsere Kameras da waren, daß wir Öffentlichkeit herstellen konnten, hat die Demonstranten geschützt ... Das Fernsehen war der ,Keilriemen der Revolution'.” Und man könnte hinzufügen: Als im August 1992 Jelzin durch eine Konterrevolution gestürzt werden sollte und auf einem Panzer stehend mit einer Rede signalisierte, der Gewalt nicht weichen zu wollen, da waren Fernsehkameras aus aller Welt, allen voran CNN, auf ihn gerichtet, und stellten Öffentlichkeit und damit weltweite Solidarität bis ins Oval Office des Weißen Hauses in Washington her.

Öffentlichkeit und Solidarität, Solidarität durch Öffentlichkeit sind politische Hauptfunktionen demokratischer Medien. Gerade diese Anschauungsbeispiele machen aber auch deutlich: es geht nicht nur um Politik im Sinne eines rationalen Entscheidungshandelns, sondern es geht auch um Wertorientierungen. Oder: inso-ferne es um Politik geht, geht es immer auch um Wertorientierungen, und damit letztlich auch um kollektive wie individuelle Gefühle in einer Gesellschaft. Diese Gefühle, die im Zeitalter technischer Rationalität und Effizienz vielfach entweder zu kurz kommen oder mißbraucht werden, umfassen die Gegenwart genauso wie die Vergangenheit.

In diesem Jahr gedachte ganz Europa der Niederwerfung des Verbrechensregimes des Nationalsozialismus vor 50 Jahren. Von London über Paris, Berlin bis Moskau - und auch in Wien - dienten die Feierlichkeiten der Mobilisierung des kollektiven Gedächtnisses. Die Medien, insbesondere das Fernsehen, schufen über geographische, politische und soziale Grenzen hinweg, ein gigantisches „virtuelles Klassenzimmer”. In diesem „virtuellen Klassenzimmer” versammelten sich Millionen Medienkonsumenten, um an einer gemeinsamen Geschichte teilzuhaben - einer

Geschichte, die in ihrem Ausmaß an Grauen und diabolischem Vernichtungswillen alle bisherigen Mensch-heitskatastrophen überragte.

Was diese Inszenierung des gemeinsamen Erinnerns zugleich aber auch und primär deutlich machte: Erinnern ist nicht nur Vergegenwärtigung des Vergangenen - Erinnern ist auch ein Stück Identitätsgewinnung. Denn mit Erinnerung ist immer zugleich auch die Wertfrage aufgeworfen. Die Wertfrage wiederum dient stets aufs Neue der Wertentscheidung und damit der notwendigen Standortbestimmung im flüchtigen Strom der Ereignisse. Oder wie diese der Schriftsteller und Friedensnobelpreisträger Ehe Wiesel heuer im Nazi-

Vernichtungslager Auschwitz formulierte: „Die Erinnerung an das Böse wird als Schutzschild gegen das Böse dienen.”

Mag sein, daß dies nur eine Hoffnung ist - eine Hoffnung gegen alle politische Erfahrung. Denn die europäische Geschichte dieses zu Ende gehenden Jahrhunderts war vor allem Gewaltgeschichte. Aber wenn wir an dieser Hoffnung- allen negativen Erfahrungen zum Trotz - festhalten, dann sind es primär die Massenmedien, die hier zum Träger dieser Hoffnung werden. Sie liefern den Stoff, aus dem sich das kollektive Bewußtsein einer Gesellschaft und auch ihre Gefühlslage laufend neu bestimmt.

Dies freilich ist aber nur unter einer Bedingung gewährleistet: Dann nämlich, wenn sowohl Staat als auch Gesellschaft die Herausforderung der Kommunikationsfreiheit annehmen. Ganz im Sinne dessen, was der Philosoph John Stuart Mill vor mehr als 100 Jahren als philosophische Grundlage der Idee der Pressefreiheit sinngemäß so formulierte:

Wenn schon niemand im Besitz der vollen Wahrheit sein kann, dann sollen wenigstens so viele Menschen wie möglich die Chance haben, nach der Wahrheit zu suchen. Darin lag immer schon die eigentliche Legitimation für den Freiheitsanspruch der Medien. Und darin ist auch der zentrale moralische und demokratiepolitische Anspruch an die „globale Kommunikationsgemeinschaft” der Zukunft zu sehen: Dazu beizutragen, daß möglichst viele Menschen über Raum-und Zeitgrenzen hinweg sich an der gemeinsamen Wahrheitssuche beteiligen können.

Die kommunikationstechnologische Revolution ist faszinierend. Sie wird aber erst den Nachweis erbringen müssen, ob sie uns in diesem Wechselspiel von Wahrheitssuche und Freiheit weiterbringt, oder ob sie zum multimedialen Instrument neuer, subtiler Formen von Bewußtseinssteuerung wird ...

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