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Die Verantwortung des Einzelnen

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Je nach der historischen Situation, In der sich die Menschheit befindet, ändern sich die Gerechtigkeits- und die Liebespflichten. In der heutigen Zeit muß wegen der furchtbaren Intensivierung der Kriegsmethoden die Frage anders behandelt werden als vor 200 Jahren, selbst wenn in den Moralbüchern noch jene Theologie herumspukt, die damals einige, vielleicht auch volle Berechtigung hatte. Die Stellungnahme des Zweiten Vatikanischen Konzils zu den Fragen von Krieg und Frieden hat manche radikale Pazifisten enttäuscht, sie hat den Friedliebenden jedenfalls die Genugtuung gebracht, daß die furchtbarsten Massenvernichtungsmittel der heutigen Kriegstechnik bedingungslos und ohne Einschränkung verurteilt wurden, wohl mit der Konsequenz, daß die direkte oder indirekte Teilnahme an Angriffen, die sich solcher Mittel bedienen, Verbrechen nicht nur der Staatsführung, sondern auch jedes Mitwirkenden sind. Ein weiterer entscheidender Fortschritt, den das Konzil der Welt gebracht hat, besteht darin, daß eine Phrase aus den Moralbüchern der Vergangenheit in den endgültigen Konzilstext nicht aufgenommen wurde, nämlich die Behauptung, die dort zu finden war, wonach der einzelne Staatsbürger nie beurteilen könne, ob eine gewisse Handlungsweise des Staates, die zum Krieg führt, ja eine staatliche Kriegserklärung oder ein gewaltsamer Angriff eines Staates auf einen anderen ohne Kriegserklärung, gerecht oder ungerecht sei. Damit war praktisch den Regierungen die Verfügungsgewalt über die christlichen Staatsbürger wie über alle anderen zugebilligt. So lange nicht mit einer an Offenbarungsgewißheit grenzenden Sicherheit empfunden wurde, daß der Staat im Unrecht ist, hatte man dem Staatsbürger das Recht zur Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen nicht zugebilligt. Ein tragisches Symbol dieser Haltung und ein Vorkämpfer der Haltung des Konzils war der österreichische Märtyrer Franz Jägerstätter, der gegen den Rat seiner geistlichen Autoritäten, alleingelassen von der sichtbaren Kirche, Gott und seinem Ruf mehr gehorcht hat, als einem zweifelhaften Prinzip der kasuistischen Moral. Heute steht es anders. Der Satz kommt in den Konzilsdokumenten nicht vor; mit oder ohne Konzil wissen wir aber, was immer der theoretisch mögliche gerechte Krieg auch sein mag, und wie fraglich es auch bleibt, ob es ihn je gegeben hat oder heute noch gibt, und selbst wenn es ihn gibt, daß der ungerechte Krieg Mord ist.

Aber die Verantwortung des Einzelnen dafür, ob ein Krieg ungerecht ist, darf nicht auf die staatliche Autorität abgewälzt werden. Hier liegt ein entscheidender Grund zur Hoffnung für die Zukunft, und wir wagen es zu sagen, sogar für die Gegenwart. Es ist absolut notwendig, daß wir verstehen, daß wir uns dem Krieg gegenüber nicht wie in vergangenen Jahrhunderten passiv verhalten dürfen, in denen er schließlich Ohne Konsumierung des Staatsvolkes, im Kabinett eines absoluten Herrschers verfügt und von Menschen durchgeführt wurde, die sich freiwillig, als Söldner der Staatsmacht, manchmal auch der gegnerischen Staatsmacht, zur Verfügung stellten. Im Zeitpunkt der Verwirklichung demokratischer Grundsätze sind die Regierungen Beauftragte des Volkes. Um so größer aber ist die Verantwortung jedes Einzelne für Entscheidungen von so ungeheuren moralischen Konsequenzen wie Krieg und Frieden. Wo also ein Krieg als unrecht empfunden wird, besteht nicht nur etwa das Recht, sondern die Pflicht, den Kriegsdienst zu verweigern.

Wäre es also eine theokratische Verirrung, wenn aus dieser Erkenntnis für den gegenwärtigen Konflikt in Vietnam Konsequenzen gezogen würden?

Wenn fast 500.000 Amerikaner, mindestens ebenso viele südvietnamesische Soldaten und wahrscheinlich genausoviel wie beide zusammen auf der anderen Seite einander umzubringen trachten, leben wir dann in der Nachkriegszeit mach dem zweiten Weltkrieg oder in der Vorkriegszeit vor dem dritten Weltkrieg? Weder noch! Wir leben im Krieg. Er ist nur um so schrecklicher geworden, als er sich nicht iso nennt und damit die Dummen irreführt, den Gleichgültigen eine Entschuldigung gibt, sich für ihnen wichtiger erscheinende Dinge zu interessieren. Einen großen Teil der Schuld an der Blindheit diesem Phänomen gegenüber tragen die ausschließlich von der Atombombengefahr hypnotisierten Friedensfreunde. Die „Nicht-Kriege“ seit dem zweiten Weltkrieg, aber schon der zweite Weltkrieg im Vergleich zum ersten und allen früheren, haben als charakteristisches Merkmal, daß das Verhältnis von zivilen zu militärischen Opfern sich in immer stärkerem Maß verschoben hat. Schon im zweiten Weltkrieg gab es mehr zivile als Kriegsopfer, im Koreakrieg ein vielfaches, im Vietnamkrieg noch viel mehr als je zuvor. Das ändert die moralische Lage für solche Christen, die einen der genannten vergangenen Kriege noch für tragbar, für einen notwendigen, wenn auch noch so schrecklichen gerechten Krieg gehalten haben. Ob das physische Leiden der Betroffenen seit dem ersten Weltkrieg ärger geworden ist, ob durch Napalm verbrannt zu werden, weniger schmerzlich ist, als an den Folgen der Atombombe langsam zu sterben, bleibt eine offene Frage, deren Beantwortung moralisch nicht relevant ist Habe wir das Recht zuzuschauen, hätten wir das Recht uns mit den Geschehnissen abzufinden, wenn nur Uniformierte von Tod und Verstümmelung betroffen wären? Besteht die Kriegsmoral, die das Vernichten von Uniformierten und das Zerstören von militärischen Objekten im Falle des „gerechten“ Krieges erlaubt, zu einem Zeitpunkt noch zurecht, in dem nicht Söldnerheere einander gegenüberstehen, sondern in beiden Lagern die Menschen in Uniform gesteckt werden?

Die Frage, ob ein Übergriff der kirchlichen Macht auf den staatlichen Bereich vorliegt, wenn den Katholiken und Christen eines Landes empfohlen wird, in einem eminent ungerechten Krieg den Kriegsdienst zu verweigern, ist die wichtigste, die die katholische Autorität sich heute zu stellen hat und in nächster Zeit zu lösen haben wird. Die Kirche hat in der Vergangenheit den Osterfrieden dadurch zur greifbaren Realität zu machen verstände, daß sie die damals üblichen Auseinandersetzungen zwischen freien Menschen, die Privatkriege und Fehden wenigstens in der Fastenzeit verboten hat. Wäre es nicht der Mühe wert, bei den Nachkommen dieser Fehden, den Kriegen souveräner Staaten, in gleicher Weise einzugreifen? Nicht aus liturgischen Gründen; nicht nur, um die Grundlage des christlichen Glaubens, die Liebe und die Gerechtigkeit, nicht zu verhöhnen, sondern um das Uberleben der Menschheit möglich zu machen.

Alle diese Fragen bedürfen noch der Erforschung und Antwort. Den Opfern des Krieges zu helfen jedoch, ist die selbstverständliche Pflicht aller, die von ihm verschont sind. Was die Katholiken der Erzdiözese Wien und andere Bewohner Wiens, sowie ein Teil von Niederösterreich getan haben, als am 1. April die Glocken läuteten und zum Gebet für den Frieden und zur Hilfe für die Kriegsopfer riefen, wird, menschlich gesprochen, die Lage in Vietnam nicht entscheidend beeinflussen. Aber ich habe einmal gehört, daß der Glaube Berge versetzen kann, und daß die Liebe stärker ist als der Tod.

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