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Die vierte Variante

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Seit der Regierungserklärung jonglierte er geschickt damit, jetzt hat ihm seine eigene Partei in die Taktik gepfuscht und ihm seine „Waffe“ vorübergehend aus der Hand genommen: Doktor Kreisky hörte über die Wahlrechtsentwürfe im sozialistischen Parteivorstand ein konsequentes Nein.

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Seit der Regierungserklärung jonglierte er geschickt damit, jetzt hat ihm seine eigene Partei in die Taktik gepfuscht und ihm seine „Waffe“ vorübergehend aus der Hand genommen: Doktor Kreisky hörte über die Wahlrechtsentwürfe im sozialistischen Parteivorstand ein konsequentes Nein.

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Damit ist die sorgsam aufgebaute Wahlrechtsstrategie vorläufig zusammengebrochen: Wie aus der Umgebung des Kanzlers verlautet, ging der ursprüngliche Plan dahin, der Volkspartei als logische Folge einer in der Regierungserklärung erhobenen Forderung nach mehr „Wahlgerechtigkeit“ drei verfassungsändernde Wahlrechtsänderungs-Vari-anten anzubieten, die von der ÖVP sowohl aus prinzipiellen als auch aus Gründen der wahlarithmetischen Positionsverschlechterung abgelehnt hätten werden müssen. Nach der Absage hätte sich Dr. Kreisky dann an die FPÖ gewandt, um mit ihr wenigstens eine einfachgesetzliche „gerechtere“ Wahlordnung im Parlament über die Bühne zu bringen. Auf dieser Linie lag auch der Auftrag des Bundeskanzlers an seinen Innenminister, drei verfassungsändernde Varianten auszuarbeiten.

Der Ressortchef in der Wiener Herrengasse tat, wie ihm geheißen, und legte dem SPÖ-Vorstand drei „Wahlrechte“ zur Begutachtung vor:

• das Modell „Gratz-Broda“, das die Wahl von 82 der geplanten insgesamt 200 Nationalratsabgeordneten in etwa gleich großen Wahlkreisen mit relativer Mehrheit und die Vergabe der restlichen 118 Parlamentssitze nach dem Propoz vorsieht, wie er sich aus einer für ganz Österreich einheitlichen Wahlzahl ergibt.

• eine Variation des bundesdeutschen Wahlrechts, bei dem die Wähler über eine Erststimme zur Wahl des Wahlkreisabgeordneten (91 bis 100 Wahlkreise) und über eine Zweitstimme zur Wahl der Parteiliste verfügen; die mindestens 200 Mandatare werden auch bei dieser Lösung durch ein gesamtösterreichisches Proporzsystem bestimmt, wobei jedoch eine Partei durch besonders gutes Abschneiden ihrer Wahlkreiskandidaten mehr Mandate erringen kann, als ihrem Stimrnenprozentanteil entspricht; in solchen Fällen würde die Zahl der Abgeordneten über 200 steigen;

• die Klein-Parteien-Hürde würde bei den beiden ersten Entwürfen die Fünf-Prozent-Klausel oder das Grundmandat sein. Der dritte Entwurf beschränkt sich nur auf die Fünf-Prozent-Klausel: er lehnt sich an das Weimarer Wahlsystem an und sieht den totalen Proporz vor; jede Partei erhält für 25.000 für sie abgegebene Stimmen ein Mandat im Nationalrat.

Daß man in der Volkspartei keinen der drei Entwürfe annehmen will, ist klar. Denn erstens stellt sich die ÖVP auf den Standpunkt, daß eine Wahlrechtsreform nur ohne Änderung der Verfassung Zustandekommen kann. Zweitens beharrt die ÖVP auf der in der Verfassung vorgesehenen Verteilung der Mandate auf die Wahlkreise nach der Bevölkerungszahl, weil ihr das System, wonach auch die noch nicht wahlberechtigten Kinder und Jugendlichen bei der Wahlentscheidung berücksichtigt werden, Vorteile bringt. Unter Berufung auf den großen, alten Sozialisten Renner, der sich vehement für dieses System eingesetzt hatte, betont man in der Volkspartei, daß es gerecht sei, wenn etwa im Mühlviertel, wo 100 Wähler 168 Bürger vertreten, das Mandat „billiger“ ist, als etwa in Wien, wo 100 Wähler nur 125 Bürger repräsentieren. Drittens verweist man in der ÖVP darauf, daß alle, besonders aber die dritte der Varianten der föderalistischen' Struktur Österreichs widersprechen.

Natürlich hat man sich in der ÖVP auch ausgerechnet, wie sich die Wahlrechtsvarianten ausgewirkt hätten, wenn sie am 1. März gegolten hätten: Die ÖVP kam dabei zu demselben Schluß, wie ihn Innenminister Rösch am 26. Juni vor der Presse als Folge der Varianten bekanntgab: Die SPÖ würde gleichbleiben, während die FPÖ zusätzliche Mandate auf Kosten der ÖVP erhalten würde. Selbft kein Verfechter einer einzigen Variante, da er sich am 5. April dieses Jahres für das deutsche Wahlrecht und am 23. Juni für das Weimarer System aussprach, mußte sich Dr. Kreisky vom Parteivorstand sagen lassen, daß die über 50 Spitzenfunktionäre der SPÖ keine der drei Varianten goutieren. Innenminister Rösch wurde vielmehr beauftragt,eine vierte Variante auszuarbeiten. Grund der Ablehnung waren nicht so sehr prinzipielle Gerechtigkeitserwägungen, sondern die Furcht, eine Erhöhung der gegenwärtig 165 betragenden Abgeordnetenzahl

könnte unpopulär sein. Denn nach deutscher Variante wäre es statt derzeit 81 SPÖ : 79 ÖVP : 5 FPÖ 98 SPÖ : 90 ÖVP : 12 FPÖ und nach dem Weimarer System 89 SPÖ : 83 ÖVP : 10 FPÖ gestanden, während nach der ersten Variante, deren Rückrechnung ziemlich kompliziert ist, jedenfalls 200 Abgeordnete ins Hohe Haus am Wiener Ring eingezogen wären.

Daneben gibt es aber in der SPÖ immer lauter werdende Stimmen, die vor einem die FPÖ begünstigenden Wahlrecht warnen. Das sei 1963 richtig gewesen, als man das sogenannte Olah-Wahlrecht mit den Freiheitlichen bereits abgesprochen hatte und eine kleine Koalition gegen die relative Mehrheit der ÖVP installieren wollte. Nun aber müsse sich die SPÖ auf die Erringung der absoluten Mehrheit konzentrieren. Diese aber wäre durch jedes FPÖ-freundliche Wahlrecht, daß den Mehrheitseffekt des gegenwärtigen Wahlrechtes auf jeden Fall eliminiere, in unerreichbare Ferne gerückt.

Auch bei der FPÖ besteht wenig Gegenliebe für die drei Varianten, weil sich die Freiheitlichen keiner Illusion über eine Zustimmung der ÖVP zu einer Verfassungsänderung hingeben, und außerdem beim dritten Entwurf die Fünfprozentklausel wie ein Damokles-Schwert über der FPÖ hängt, die am 1. März nur 5,5 Prozent erhielt. Unter dem Druck der FPÖ und des eigenen Parteivorstandes arbeitet das Innenministerium nun an einer Neuauflage des Olah-Entwurfs von 1963, der in seiner letzten Fassung vorsieht, die Bevölkerungszahl durch die Verteilung der 165 Mandate in de facto nur zwei Riesenwahlkreisen möglichst auszuschalten. Die Anwendung dieses Systems auf das Ergebnis vom 1. März ergibt einen Verlust von drei ÖVP-Mandaten an die Freiheitlichen, während die SPÖ unverändert bliebe.

Dr. Kreisky will jedoch sein strategisches Konzept noch nicht aufgeben: Im Innenministerium arbeitet man nämlich an einer Olah-Wahlrechts-variante mit einer Verfassungsbestimmung, welche die Eliminie-rumig der Bevölkerungszahl bei der Zuteilung der Mandate auf die Wahlkreise vorsieht. Damit würde der Bundeskanzler eine kleine Wahlrechtsreform als große tarnen; nach der Ablehnung dieses Entwurfs brauchte nur die Verfassungsbestimmung gestrichen werden, um den Entwurf mit der FPÖ zum einfachen Gesetz zu erheben.

Ob Dr. Kreisky seine Wahlrechtstaktik umgeplant vollziehen kann, ist aber nach wie vor fraglich. Es hängt davon ab, welche Linie sich in der Partei durchsetzt: Die Probst-oder die Gmoser-Linie. Zentralsekretär Probst erklärte am 20. Juli 1963, das gegenwärtige Wahlrecht sei ohnehin optimal, aber bei einer Änderung spielten die Grundsätze weniger Rolle als der Bleistift: „Zuerst rechnet sich jeder die Sache genau durch, und das Ergebnis, das ihm am meisten nützt, das ist dann das demokratischste System.“ SPÖ-Gewerkschafter Rupert Gmoser hingegen ist der Vertreter der lupenreinen Lösung: Entweder totales Proporzwahlrecht mit Proporzregierung oder englisches Wahlsystem mit echter Mehrheit und Opposition.

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