Die Wahl der letzten HOFFNUNG

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Die Aussichten, dass die Ukraine doch noch den Weg in einer funktionierende Demokratie schafft, liegt in den Händen Petro Poroschenkos. Hoch sind sie nicht.

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Die Aussichten, dass die Ukraine doch noch den Weg in einer funktionierende Demokratie schafft, liegt in den Händen Petro Poroschenkos. Hoch sind sie nicht.

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Es ist kurz vor 11 Uhr im Wahllokal 800549 am Nordwestrand von Kiew. Draußen ragen die Plattenbauten des Wohnbezirks Obolon in den Himmel, drinnen ist es trotz der frühen Stunde schon heiß wie in einem Treibhaus. Während das Thermometer auf 30 Grad klettert, fächern sich die Menschen in den langen Warteschlangen mit Zeitungen Luft zu. Geschlagene eineinhalb Stunden müssen die Wähler warten, um ihre Stimme abzugeben.

In Kiew ist es diesmal ein besonders heißer Wahltag - nicht nur meteorologisch: Die ukrainische Hauptstadt hat am Sonntag einen neuen Präsidenten, einen neuen Bürgermeister und eine neue Stadtverwaltung gewählt. Insgesamt vier Wahlzettel sind auszufüllen. "Das sorgt vor allem bei älteren Menschen für Verwirrung", sagt Wahlhelferin Ljubow Nikolajewna. Sie hat alle Hände voll zu tun, ratlosen Wählern noch letzte Instruktionen zu geben, bevor sie hinter die blauen Vorhänge der Wahlkabine huschen.

Der Ansturm ist groß. "Wir brauchen die Wahlen, damit wir hier endlich wieder in Ruhe leben können", sagt Larissa Semjonowna, eine 70-jährige Frau mit adrettem Blondschopf und dunkel nachgezogenen Augenbrauen. Sie ist für diesen Wahlsonntag extra aus ihrer 50 Kilometer entfernten Datscha angereist. "Wir lieben unser Kiew, wir lieben unsere Ukraine. Die Wahlen sind unsere Bürgerpflicht. Wir brauchen jemanden, der endlich den Krieg im Donbass beendet", sagt sie.

Suche nach neuer Stärke

Vor dem Wahllokal haben sich Menschengruppen gebildet. Zwei Namen sind in aller Munde: Petro Poroschenko und Vitali Klitschko. "Poroschenko ist ein ehrenvoller Mann. Er kann uns aus der Krise führen", sagt Tamara, eine pensionierte Ingenieurin im bunten Sommerkleid. "Und für Klitschko habe ich gestimmt, weil er jung und stark ist. Ihn kennt man im Westen, das wird unser Image aufbessern", sagt Tamara.

Während sich Klitschko als Sprecher der Protestbewegung am Maidan seine Sporen verdient hat, ist Poroschenko keine unumstrittene Figur. Er mischt seit Jahren in der ukrainischen Politik mit und bekleidete schon mehrere politische Ämter, zuletzt im Jahr 2012 das Amt des Wirtschaftsministers unter Präsident Viktor Janukowitsch. Er ist Eigentümer des Schokoladen-Imperiums "Roshen", sein Vermögen wird laut Forbes auf 1,6 Milliarden US-Dollar geschätzt. Die Kritik, dass mit Poroschenko wieder ein Oligarch in Kiew die Fäden zieht, wischt Wähler Igor mit einer Handbewegung weg. "Warum soll das schlecht sein? Er investiert sein Geld in unserem Land - ich sehe das nicht als Nachteil", sagt Igor, der sich mit seinem Sohn im Schatten eines Baumes abkühlt.

Es herrscht eine Stimmung wie an einem Nationalfeiertag: Patriotische Symbole bestimmen das Stadtbild. Viele der Wähler kommen in weißen Hemden mit bunten Stickereien, der ukrainischen Nationaltracht. Junge Frauen haben Bänder mit den ukrainischen Nationalfarben gelb-blau in ihr Haar oder an ihre Handtaschen gebunden. Die Garagenfront vor dem Wahllokal wurde gerade frisch gestrichen - in gelb-blau. Manche Passanten meinen, das sei schon etwas zu dick aufgetragen.

Eine "Mission Impossible"?

An die große Symbolik sind große Erwartungen geknüpft, vor allem in der Lösung des Konflikts in der Ostukraine.

Viele Beobachter, wie etwa der georgische Ex-Präsident Michail Saakaschwili, sehen die Aufgaben des Präsidenten als eine "Mission Impossible". Täglich gibt es neue Eskalationen im Osten der Ukraine, die Krim ist annektiert, die Staatskassen sind leer. Seine erste Dienstreise wird Poroschenko in den Donbass führen, das hat er im Wahlkampf betont.

Mit den Separatisten, die er als "Terroristen" bezeichnet, will Poroschenko allerdings nicht reden.

"Kein Staat der Welt verhandelt mit Terroristen!", sagte der frisch gewählte Präsident auf seiner ersten Pressekonferenz.

Unter denen, die für den "Schokoladenkönig" stimmten, finden sich freilich nicht nur glühende Anhänger. "Wir sind es gewohnt, in der Ukraine nicht einen Kandidaten zu wählen, den wir wirklich wollen, sondern nur zu wählen, um einen anderen Kandidaten zu verhindern", sagt Aleksandr. Er ist Journalist und von der Krim nach Kiew geflüchtet.

Wie tausende andere Krim-Flüchtlinge hat Aleksandr nun außerhalb seiner Heimat seine Stimme abgegeben. Er wird sich erst in der Wahlkabine entscheiden, wem er seine Stimme gibt. "Hauptsache, Julia Timoschenko wird nicht Präsidentin", sagt er. Timoschenko habe ihre Chance schon gehabt - damals, nach der Orangen Revolution. Diese Meinung teilt auch Taxifahrer Alexej: "Timoschenko ist eine Person von vor-vor-gestern." Für Poroschenko, der auch schon seit Jahren in der Politik mitmischt, scheint das heute nicht zu gelten. "Er macht zumindest leckere Schokolade", sagt Alexej achselzuckend.

Am Nachmittag zieht ein schwerer Hagelsturm über die Stadt. Die Kiewer witzeln: Ist es nach der Schwüle das lang erwartete, reinigende Gewitter? Oder sind die Hagelkörner doch die Vorboten der Apokalypse? Als Poroschenko und Klitschko am Abend zu ihrer Wahlfeier laden, haben sich die Gewitterwolken wieder verzogen. Poroschenko gewinnt im ersten Wahlgang, Klitschko wird Bürgermeister. Es ist ein Sieg auf ganzer Linie. Als das Duo nach der Bekanntgabe der Ergebnisse die Bühne betritt, regt sich aber nur verhaltener Applaus. Er wirkt beinahe tröstend. Die Zurückhaltung ob der Herkulesaufgaben, die den Politikern bevorstehen, ist greifbar.

Das mag auch am Ort liegen. Vielen Kiewern ist noch gut in Erinnerung, wofür das Kunstarsenal, wo die Wahlfeier des Duos Poroschenko-Klitschko stattfindet, steht: Die jahrhundertealte Festungsanlage wurde renoviert und 2006 als Museumskomplex eröffnet - von Wiktor Juschtschenko, jenem Präsidenten, der nach der Orangen Revolution, dem "ersten Maidan", ins Präsidentenamt gespült wurde und der während seiner Amtszeit besonders glücklos auftrat. Was, wenn Poroschenko dasselbe Schicksal erleidet? "Ich hoffe wirklich, dass die Ukrainer die richtige Wahl getroffen haben. Denn eine vierte Chance - nach der Wende, der Orangen Revolution und dem Maidan - wird die Ukraine nicht bekommen", schreibt der Politologe Anton Schechowtsow.

Resignation und Versöhnung

Während im Kunstarsenal über die Zukunft des Landes diskutiert wird, haben sich auf dem Maidan bis spät in die Nacht ein paar Dutzend Menschen zum Public Viewing eingefunden. Die Stimmung an jenem Ort, der das Epizentrum des Umbruchs war, schwankt zwischen Resignation, Hoffnung und Versöhnung. "Es ist nicht wichtig, wer der neue Präsident ist -sondern dass wir jetzt endlich einen legitimen Präsidenten haben", seufzt Sergej, der auf dem Maidan gekämpft hat. "Es ist das Wichtigste, dass wir jetzt nicht noch einmal Wochen bis zur Stichwahl warten müssen. Denn im Kampf um die Ostukraine geht es um jeden Tag. Wir haben keine Zeit zu verlieren!", sagt Sergej.

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