6614220-1955_21_04.jpg
Digital In Arbeit

Die Welt ist in Bewegung

Werbung
Werbung
Werbung

Jahre hindurch war die Weltpolitik hoffnungslos erstarrt. Aus dem Gegensatz zwischen West und Ost schien es keinen Ausweg zu geben. Seit einigen Wochen ist nun die gesamte Weltpolitik kräftig in Fluß geraten. Bald hier, bald dort entdeckt man neue Verständigungsgrundlagen, Rußland lenkte in Oesterreich und Rotchina in der Formosa-Frage ein, in Bandung zeichneten sich die ersten Umrisse einer neuen gemeinsamen Politik der Neutralität ab, die alle regionalen Zerwürfnisse beiseite schiebt, um den Grundsatz der Nichteinmischung zu verwirklichen. Auch in Amerika scheint das Eis allmählich aufzutauen; man traut sich noch nicht, es offen zu sagen (bis auf Adlai Stevenson, der aber keine politische Verantwortung trägt), daß in Ostasien Rotchina die Wirklichkeit und Nationalchina doch nur ein Schattengebilde darstellt, auf das man sich nicht stützen kann.

In Europa selbst macht der regionale Verständigungsgedanke wieder Fortschritte. Pinay und Adenauer brachten eine Auffassung zum Ausdrück, die schon von etwa fünf Jahren durch Robert Schuman vertwten, aber von breiten Teilen des französischen Volkes damals nicht verstanden wurde.

Diese Reihe gleichzeitig einsetzender Bestrebungen zur Annäherung oder zumindest zur Schaffung einer ruhigeren weltpolitischen Lage, wirkt nun auf den Beobachter stärker, als es die treibenden Kräfte rechtfertigen. Denn ein Nebeneinander besagt nicht unbedingt, daß es sich um Bestandteile einer organischen Entwicklung handelt. Bei näherer Betrachtung zerfällt das Bild auch in mehrere Einzelflächen, die miteinander kaum zusammenhängen.

Die Wendung der russischen Politik gegenüber Oesterreich ist plötzlich erfolgt, nachdem Moskau noch vor wenigen Monaten eine gesonderte Behandlung dieses Problems ablehnte. Noch jäher und noch unerwarteter kam die Bereitschaft Rotchinas, mit Amerika zu verhandeln, nachdem Peking es abgelehnt hatte, seinen Standpunkt vor den Vereinten Nationen auseinanderzusetzen.

Ganz anders liegen die Verhältnisse in Amerika, wo seit Jahr und Tag innere und äußere Kräfte erfolglos eingesetzt werden, um die amtliche Politik aus dem Felde der Hypothesen in das Gebiet der Wirklichkeit überzuführen. Präsident Eisenhower verhinderte wohl bereits dreimal, daß die Spannungen im Feinen Osten in einen regionalen — vermutlich hernach in einen planetaren — Krieg ausarten, aber erst jetzt, zum ersten Male, scheint Washington einen „Modus vivendi“ mit Rotchina anzustreben. Hier ist also die Entwicklung weder plötzlich gekommen noch weist sie die Durchschlagskraft auf, die es ihr gestatten würde, mit der früheren Politik radikal aufzuräumen.

Noch anders liegen die Verhältnisse auf dem westeuropäischen Festland. So erfreulich es auch ist, daß die beiden führenden Nationen Frankreich und Deutschland den Weg zueinander suchen, kommt der dortigen Entwicklung doch nicht jene weltpolitische Bedeutung zu, die man ihr aus der speziellen europäischen Perspektive nur allzu leicht beimißt. Es gibt nur drei Staaten, die von sich aus Weltpolitik machen können: Sowjetrußland, Rotchina und Amerika. Die Konflikte und die regionalen Verständigungen der anderen sind nur weltpolitisches Geröll, wenn sich in ihm neben vielen kleinen auch einige größere Felsstücke befinden. Dennoch zeigt es sich eben in der europäischen Politik — sowohl im regionalen wie auch im weltpolitischen Sinne —, daß der Westen seine politische Denkart abändern, elastischer gestalten und von überlieferten Anschauungen säubern müßte.

Die atlantischen Staaten sollten es erlernen, in ihren außenpolitischen Stellungnahmen ihre wahren, permanenten Interessen und die tagespolitischen Prestigerücksichten gegeneinander ebenso nüchtern abzuwägen, wie es die Staatsmänner des Ostblocks tun. Wohl kann man von Regierungen, die eine echte parlamentarische Verantwortung haben, nicht verlangen, daß sie je nach der augenblicklichen weltpolitischen Windrichtung den Kurs jäh wechseln, die öffentliche Meinung ihres Landes könnte diesen plötzlichen Wendungen nicht gut folgen und der mangelnde Kontakt zwischen der Regierung und der Nation müßte bald zu einer Regierungskrise führen. Aber es ist auch falsch, wenn sich Staatsmänner und Regierungen verzweifelt an Vorstellungen klammern oder bei früheren Stellungnahmen ausharren und den unvermeidlichen Richtungswechsel hinauszögern, allein, um ihren früheren Irrtum nicht offen eingestehen zu müssen.

In dieser Hinsicht befinden sich die autoritär geführten Staaten in einer weit besseren Lage als die Staaten der freien Welt. Eine echte parlamentarische Verantwortlichkeit gibt es bei den ersteren nicht, und in den meisten dieser Länder ist die öffentliche Meinung noch nicht genug geschult, um an der Außenpolitik mit Folgerichtigkeit Kritik zu üben. Daher konnten Rußland und zuletzt Rotchina eine diplomatische Akrobatik vorführen, bei der sich jeder westliche Staatsmann sehr bald parlamentarisch das Genick gebrochen hätte.

Anderseits wirkt die amerikanische Weltpolitik zeitweise ganz unrealistisch, weil die Reaktionen der dortigen öffentlichen Meinung viel zu heftig sind. „Bring the boys home“ — hieß es kurz nach Kriegsende, und wegen der überhasteten Abrüstung im Jahre 1946 mußte Amerika drei Jahre später in zwölfter Stunde die NATO schaffen, um Westeuropa vor den Zugriffen Rußlands zu schützen. Rotchina gegenüber verharrt hingegen Amerika in einer Ablehnung, die sich nur psychologisch erklären läßt: im Korea-Krieg hat es die weitaus größten Blutopfer bringen müssen. Warum zeigt Amerika nur dann eine sichere Urteilskraft, wenn es sich um die weltpolitische Einschätzung von Konflikten zwischen dritten Ländern handelt? Gewiß hatte es recht, als es seit Jahren auf eine deutsch-französische Verständigung drängte, aber warum soll Frankreich seine Opfer in den Jahren 1939 bis 1945 rascher verschmerzen müssen als Amerika die seinigen in den Jahren 1950 bis 1952? Ein Menschenleben ist gleich viel wert, ob es sich um einen Weißen oder Gelben, einen Amerikaner oder Franzosen handelt. Man kann Weltpolitik nicht gefühlsmäßig führen, und erst recht kann man fremden Nationen nicht die eigene Wertskala der Opfer als internationale Norm aufdrängen. Die amerikanische Weltpolitik enthält eine zu starke Dosis von Prestigeerwägungen, und was dort nervenreizend wirkt, empfindet Westeuropa als lähmend.

Weniger ausschlaggebend, aber zeitweise doch störend, ist die stark durch Prestigeerwägungen durchtränkte Außenpolitik Frankreichs. Eben weil das Land fühlt, wie viel es von seiner einstigen Weltgeltung eingebüßt hat, hält es sich streng an die Buchstaben der internationalen Abmachungen und pocht auf seine unbestrittenen kulturellen Verdienste, um sich wieder in die erste Reihe stellen zu dürfen. Erst wenn Frankreich begriffen haben wird, daß man nur jene Außenpolitik erfolgreich betreiben kann, die den jeweiligen Kräften des Landes entspricht — und nicht denen, die es einst besaß —, wird es wieder zu einer konstanten Kraftquelle der europäischen Entwicklung werden, anstatt abwechselnd Treibkraft oder Bremse zu sein.

Auch im Falle Deutschlands zeigen ich neuerdings Prestigeerwägungen, obschon Bundeskanzler Adenauer bis jetzt den Fehler zu vermeiden verstand. Leider hat die deutsche Nation die Tendenz, in politischen Dingen „himmelhoch jauchzend — zu Tode betrübt“ zu sein, bloß daß die Reihenfolge seit Kriegsende umgekehrt war. Sie ist nicht mehr niedergeschlagen, was sicher erfreulich ist, die Einstellung sollte aber auch nicht in das Gegenteil umschlagen. Die Saarland-Politik weist Züge betonter Prestigeerwägungen auf, was dazu beitrug, daß die Verständigung mit Frankreich sich sehr lange hinausgezögert hat.

Ein richtiges' Gleichgewicht zwischen Verharren und Elastizität haben nur die Engländer eingehalten. Sie sind selbstbewußt, entgleisen wohl manchmal dem Kontinent gegenüber in eine Ueberheblichkeit und zeigen Amerika gegenüber fast zuviel Geduld, aber nie verursachten sie seit Kriegsende eine ernste Störung der gemeinsamen atlantischen Außenpolitik. Ihre Vorliebe zum Experimentieren, statt sich fest zu binden, was man auf dem Kontinent nicht immer richtig verstand, und ihre Bereitschaft hierzu, die ihnen von Seiten Amerikat zeitweise Vorgeworfeft wurde (Churchills Plan, nach Moskau zu fahren I), bestimmen den Kurs ihrer Außenpolitik. Er ist der einzig realistische in der westlichen Welt und stellt die einzige Replik auf die rücksichtslos-wendige Außenpolitik der Staaten des Ostblocks dar.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung