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Die Zäsur des Jahres 1918

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Dieser wurde durch den französischen niederen Klerus repräsentiert, dessen Vertreter in der Ständeversammlung von 1789 gegen die Hierarchie für die Abstimmung nach Köpfen und nicht nach Ständen gestimmt hatten und damit das Startsignal zur Formierung der Revolution gaben. Diese Kräfte waren freilich nicht mit dem offiziellen Katholizismus identisch, der sich in dem Augenblick in eine Kampfstellung gegen die Revolution gedrängt sah, als sich die Revolution selbst zur „Kirche“ erklärt hatte.

Über ein Jahrhundert lang befindet sich von da an der französische Katholizismus in einer Abwehrhaltung gegen alle demokratischen Bestrebungen. In Italien war es wieder das Bündnis zwischen Liberalismus und Nationalismus, das den Katholizismus — seit der Beseitigung des Kirchenstaates auf die Wiederherstellung der weltlichen Macht des Papsttums eingeschworen — keinen Anschluß an die Demokratie finden ließ, von deren Institutionen die Katholiken jahrzehntelang durch ein Verdikt der Päpste ausgeschlossen wurden. Lagen die Dinge in Deutschland hinwieder insofern anders, als die Katholiken an die demokratische Bewegung verhältnismäßig früh Anschluß fanden, so stand ihnen hier die konfessionelle Barriere im Weg. Sie hatte sie in ein politisches Ghetto eingeschlossen, das ihre aufbauende politische Kraft für die Demokratie weitgehend lähmte. Auch in Österreich stand das katholische Bevölkerungselement, soweit es sich bewußt als solches empfand, lange Zeit an der Seite des alten Staates. Es befand sich daher ebenso wie in Frankreich und Italien in einem Gegensatz zu den politischen Strömungen, denen es um die Überwindung dieses Staates ging.

Das Ende des ersten Weltkrieges bedeutete für das politische Denken der Katholiken zweifellos eine Zäsur. Standen damals die sozialistischen Parteien im Zenit ihrer politischen Geltung, wogegen die liberalen Parteien ihren Höhepunkt schon vor dem Ausbruch des ersten Weltkrieges überschritten hatten, so beginnen die konfessionellen Parteien jetzt erst, sich mit dem demokratischen Staat zu arrangieren, soweit sie in verschiedenen Staaten nicht überhaupt erst in Erscheinung treten.

Das gilt für Frankreich, dessen „Demokratische Volkspartei“, im Jahre 1920 gegründet, die erste parteimäßige Formierung der Katholiken bildet, aber mit ihren 18 Abgeordneten nur eine Splittergruppe darstellt. Nicht viel anders liegen die Dinge in Italien, wo es ebenfalls erst im Jahre 1919 zur Bildung der Katholischen Volkspartei kommt, der aber lediglich ein politisches Gastspiel beschieden ist, weil sie im Zuge der Etablierung der Fascio als einzige Staatspartei bereits 1926 wieder aufgelöst werden mußte. In Deutschland hingegen wird das Zentrum in der Auseinandersetzung zwischen den rechts- und linksradikalen

Parteien zum Zünglein an der Waage. Da ein Aufruf Stegerwalds im Jahre 1920 zur Umwandlung des katholischen Zentrums in eine christlich-demokratische Partei kein Echo fand, erweist sich das Zentrum in seiner konfessionellen Isolierung gleichzeitig als zu schwach, zusammen mit der demokratischen Linken eine breite Mitte zu bilden. In Österreich, wo die Christlichsozialen nun zur eigentlichen staatstragenden Partei geworden waren, scheiterte ihre Mission am Austromarxismus.

So wird erst das Jahr 1945 zur Sternstunde der christlich-demokratischen Parteien. Ihre Vorgänger waren in fast allen europäischen Staaten durch den Nationalsozialismus oder den Faschismus in die Illegalität verbannt worden, in der es zu einer ersten Regenerierung dieser Parteien kommen sollte. Mit dem Vormarsch der Alliierten tauchen die christlich-demokratischen Parteien zum erstenmal aus dem politischen Untergrund auf, um alsbald im Handumdrehen diie politische Szene zu beherrschen.

Am deutlichsten trat dieses Phänomen in Frankreich in Erscheinung, als das MRP bei den Wahlen im Oktober 1945 auf Anhieb 30 Prozent der Stimmen und 150 Mandate eroberte und damit nur um ein Mandat hinter den Kommunisten zurückgeblieben war. Schon vorher hatte in Ungarn die Kleinlandwirtepartei die absolute Mehrheit errungen, im November 1945 folgte ihr die österreichische Volkspartei mit einem gleichen Erfolg. Ähnlich verhielt es sich in Italien und in der Bundesrepublik Deutschland: Die DC errang schon 1946 mit 35,2 Prozent beinahe ebenso viele Stimmen wie die Linksparteien zusammengenommen und stieß zwei Jahre später ebenfalls zur absoluten Mehrheit vor; die CDU/CSU, die bei den ersten Wahlen im Jahre 1949 31 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen konnten, stiegen 1953 auf 45,2 und 1957 auf 50,2 Prozent, womit sie ebenfalls die absolute Mehrheit erreicht hatten.

In einer weit ausholenden, nicht weniger als 150 Jahre umfassenden Bewegung haben sich die christlichen Kräfte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts an die Spitze gesetzt, um nun den Wiederaufbau eines Kontinents zu bewältigen, den politischer Extremismus zunächst desorganisiert und dann vollends in den Abgrund gestoßen hatte.

Für den Erfolg der christlichdemokratischen Parteien spricht vor allem aber der Umstand, daß sie ihren hauptsächlichen politischen Gegner, den demokratischen Sozialismus, zu einer Revision seiner früheren Standpunkte gezwungen haben. In der von ihnen aufgebauten wirtschaftlichen und sozialen Ordnung waren die ideologischen Positionen der demokratischen Linken alsbald nicht mehr zu halten.

Der Gegner muß einlenken

Waren die christlich-demokratischen Parteien im Jahre 1945 noch wider einen Gegner angetreten, der totale Planung, Enteignung der Besitzerklassen, den Versorgungs- staat und als Konsequenz alles dessen eine sozialistische Demokratie auf seine Fahnen geschrieben hatte,

so stehen sie heute sozialistischen Parteien gegenüber, die den Markt, die Privatinitiative und die pluralistische Gesellschaft entdeckt haben, nicht zuletzt aber auch dabei sind, ihr Verhältnis zu den Kirchen einer grundlegenden Revision zu unterziehen. Manche leiten aus dieser neuen Situation sogar den Schluß ab, daß sich die christlich-demokratischen Parteien durch ihren eigenen Erfolg überlebt hätten.

Orientierung an der Gegenwart

In Wirklichkeit stehen die christlich-demokratischen Parteien Westeuropas jetzt erst jener gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Wirklichkeit gegenüber, in deren Rahmen ihre positiven Antriebe wirksam werden können. Waren sie in der Vergangenheit. in einen Kampf gegen ideologische Positionen verwickelt, der ihre aufbauende Kraft weitgehend absorbierte, so kann ihre Orientierung am Gemeinwohl, die ihre politische Grundorientierung bildet, überhaupt erst in einem System restlos fruchtbar werden, in dem das Gemeinwohl bereits institutionalisiert erscheint, also nicht mehr differenten ideologischen Deutungen ausgesetzt ist

Denn dieses Gemeinwohl war in der Vergangenheit insofern tatsächlich eine Leerformel, als sich die einzelnen Parteien unter ihm ganz Verschiedenes vorgestellt haben, ein Umstand, der natürlich auch die Möglichkeit ausschloß, sie auf das Gemeinwohl zu verpflichten. Erst die nunmehr gegebene teilweise Übereinkunft über die institutioneilen Voraussetzungen des Gemeinwohls, also die Anerkennung gewisser Einrichtungen, die als Grundbedingungen des Gemeinwohls erkannt sind, läßt eine Verständigung über das Gemeinwohl zu und gibt damit christlich-demokratischen Parteien eine erhöhte Chance, ihren Beitrag zum Wohle aller zu leisten.

Ja, gerade im Rahmen des Gemeinwohlsystems, wie wir es heute vor uns haben, erscheinen jene ethischen Bindungen in die Schranken gefordert, ohne die auch ein solches System korrumpiert werden müßte. Diese Bindungen aber finden im politischen Ethos einer christlich-demokratischen Partei immer noch ihre tiefste Begründung.

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