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Die Zukunft, heißt „Solidarstaat"

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Wer sich jetzt nicht traut, die Frage nach der Finanzierbarkeit des sozialen Netzes zu stellen, läßt die nächste Generation bedenkenlos büßen.

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Wer sich jetzt nicht traut, die Frage nach der Finanzierbarkeit des sozialen Netzes zu stellen, läßt die nächste Generation bedenkenlos büßen.

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Die politische Diskussion zeigt, daß wir an einer Wegkreuzung der weiteren Entwicklung des Sozialstaates angekommen sind. Wir alle fühlen, daß die Entwicklung des sozialen Leistungsnetzes so wie bisher nicht mehr lange weitergehen kann, und wir verspüren gleichzeitig eine dumpfe unbehagliche Ahnung vor der Zukunft des Sozialstaates. Eine Standortbestimmung ist insoweit angezeigt:

Ich gehe dabei davon aus, daß es für einen Staat unverzichtbar ist, sich der Sozialen Frage anzunehmen. Es ist sicherzustellen, daß den Menschen, die hier leben, in einer Situation, in der sie durch Wechselfälle des Lebens beeinträchtigt sind, materieller Schutz der Gemeinschaft zuteil wird. Würde unser Staat diesem Anliegen keine Rechnung tragen, wären nicht nur Grundlagen der Humanität, sondern es wäre auch der Fortbestand der Prosperität gefährdet: Wenn wir uns der Sozialen Frage nicht stellen, werden nicht nur Menschen entwürdigt, sondern es wird auch der soziale Friede als wesentliche Grundlage des Bechtsstaats und einer gesunden Wirtschaft gefährdet.

Was die Terminologie betrifft, wäre es allerdings besser, den Begriff „Sozialstaat" nicht mehr unbesehen zu verwenden: Zu viele unterschiedliche Ideologien haben diesen Terminus schon vereinnahmt, weshalb er keinen semantisch klaren Begriffsgehalt mehr vermittelt.

Ich spreche insoferne lieber vom „solidarischen Staat": In diesem Begriff wird deutlich, was Aufgabe des Staates ist: Es geht nicht um eine ne-bulose „soziale" Schlagseite des Staates, sondern um die Verantwortung für jene, die der Hilfe der Gemeinschaft bedürfen. Mit der Wendung vom solidarischen Staat ist ausgedrückt, daß diese Verantwortung einerseits vom Staat einzufordern ist, ohne daß der einzelne aus seiner Eigenverantwortung grundsätzlich entlassen werden soll.

Wenn man den Sozialstaat als solidarischen Staat begreift, wird deutlich, daß er kein einmal erreichter Zustand, sondern ein ständig neues Gebot ist: Unter sich wechselnden ökonomischen und gesellschaftlichen Bahmenbedingungen muß immer neu bewertet werden, wo und in welchem Maß Individualverantwortung eingefordert beziehungsweise wo und in welchem Maß Schutz durch die Solidargemeinschaft gewährt werden muß. Die Bezugnahme auf die Solidarität zeigt, daß die Gemeinschaft nur in Situationen einstehen sollte, in denen der Geschützte der Hilfe bedarf.

Ein so verstandener Sozialstaat muß daher immer neu die Frage stellen, wo Bedürfnisse vorliegen, und wieweit es Aufgabe des Staates sein soll, diese Bedürfnisse solidarisch mitzutragen. Unter diesem Blickwinkel erkennt man deutlich, daß der Sozialstaat, wenn er als solidarischer Staat verstanden wird, immer neu erworben werden muß: Unter dem Blickwinkel der Solidarität sind Veränderangen im Schutzinstrumentarium des Sozialstaates unverzichtbar, weil es darum geht, angesichts von Veränderungen in der Bealität, die Balance* zwischen Solidarität und Eigenverantwortung zu wahren.

Unter diesem Blickwinkel ist es ein Gebot der Stunde, diese Proportionen der Sozialsysteme wieder herzustellen. Dazu ein einfaches Beispiel: In der Pensionsversicherang waren Hinterbliebenenleistungen ursprünglich für den Fall vorgesehen, daß nach dem Tode des Familienerhalters unterhaltsberechtigte Personen (in aller Begel Frauen) ohne eigenes Einkommen Schutz durch die Versicherten-gemeinschaft auch über den Tod des Versicherten hinaus benötigten.

Heute werden derartige Pensionen auch gewährt, wenn die Hinterbliebenen eigene Erwerbseinkommen oder auf Grund von Erwerbseinkommen eine eigene Pension beziehen. Dies ist darauf zurückzuführen, daß trotz massiver Veränderungen in der Arbeitswelt (nämlich trotz steigender Berufstätigkeit von Frauen) eine Anpassung des Pensionsrechts unterblieb: Es wurde nicht sichergestellt, daß nur unversorgte Hinterbliebene in den Genuß der Hilfe der Solidargemeinschaft kommen.

Nun könnte man einwenden, es sei eben ein sozialer Fortschritt, die Hinterbliebenenleistungen im Effekt auch auf nicht Schutzbedürftige auszubauen. Dem ist freilich entgegenzuhalten, daß ein solcher Fortschritt jedenfalls dann in Frage zu stellen ist, wenn die Finanzierung die Möglichkeiten der Solidargemeinschaft übersteigt, wie dies derzeit der Fall ist.

Man könnte diesem Beispiel noch viele folgen lassen: Es gibt viele Begelungen, die im Vergleich zu ihrer ursprünglichen Tragweite aus dem Lot geraten sind. Aber: Wäre nicht die Wiederherstellung der ursprünglichen Proportionen mit einem massiven Sozialabbau verbunden?

In der Tat ist es so, daß Sozialabbau zu vermeiden ist. Allerdings ist hier nicht nur auf den Sozialabbau zu sehen, der jene trifft, deren Eigenverantwortung die Solidargemeinschaft in Zukunft verstärkt einfordern muß. Es muß vielmehr auch jener Sozialabbau vermieden werden, der stattfindet, wenn man die Proportionen im Leistungsrecht nicht wiederherstellt: Der Sozialabbau an den kommenden Generationen. Er findet durch die Anhäufung von Staatsschulden aus einem Sozialsystem statt, bei dem man sich nicht traut, die Frage nach der Verteilung von Ei-ge'nverantwortung und Solidarität immer wieder neu zu beantworten.

Der Autor ist

Professor am Institut für Arbeits und Sozialrecht an der Universität Wien.

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