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Eidgenossen vor der Wahl

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Die Schweiz steht vor Neuwahlen. Es fällt diesmal leicht, keine Überraschungen vorauszusagen, da die Gemeinde-und Kantonsabstimmungen der letzten Monate zeigten, daß die meisten Wähler mit den Leistungen der von ihnen vor vier Jahren bestellten Mandatare im großen und ganzen zufrieden gewesen sind. Die Stärke der drei meistverantwortlichen Parteien, der Sozialistischen, der Freisinnigen und der Katholisch-Konservativen, wird also wohl unverändert bleiben oder nur geringen Schwankungen unterworfen werden, und der „Landesring der Unabhängigen“ des dynamischen Zürcher Geschäftsmannes Gottlieb Duttweiler fällt ebenso wie die Berner Bürger- und Bauernpartei als regional bedingte Organisation des Mittelstandes gesamthaft nicht wesentlich ins Gewicht. So bliebe also, von außen gesehen, alles beim alten. Und doch scheint es, als ob der am letzten Oktobersonntag zu wählende National- und Ständerat ein neues Gesicht, einen neuen Charakterzug erhalten werde.

Die Wahlvorschläge der Sozialistischen und der Liberalen Partei lassen die bevorstehende grundsätzliche Änderung der schweizerischen Innenpolitik erkennen. Auf den von diesen beiden Parteien ausgearbeiteten Listen tritt ein in der Eidgenossenschaft bisher unbekannt gebliebenes Phänomen zutage: die proponier-ten Abgeordneten sind nicht in erster Linie Politiker, sondern Interessenvertreter. Die Sozialisten schlagen Männer der Gewerkschaft, Vorstände von Arbeitervereinen und Arbeiterunionen vor, Vertreter von Institutionen, die zum Wohl der Arbeitnehmer gegründet worden waren und seit längerer Zeit das Recht für sich in Anspruch nehmen, über Wohl und Wehe dieser Arbeitnehmer selbst zu entscheiden. Die Freisinnige Partei hält es ebenso: Bankenverbände, . Wirtschaftsbünde, Industriellenvereini-gungen und gewerbliche Organisationen entsenden ihre Vertreter ins Parlament, und auch auf die landwirtschaftlichen Genossenschaften ist nicht vergessen worden. Vergessen wurde von beiden Seiten auf jemand anderen: auf den „Bürger“ im ursprünglichen Sinn, der das politische Gesicht der Schweiz durch Jahrhunderte bestimmt hat, vergessen hat man auf den Bürger aus Zürich und Genf, aus Basel und Bern, der, wie auch immer seine politische Einstellung gewesen sein mag, als verantwortungsbereiter Staatsbürger seinen Mann stellte, der nicht als Interessenvertreter ins Bundeshaus zog, sondern den Weg vom Gemeinderat zum Kantonsrat und schließlich zum Nationalrat nahm, ein Weg der politischen Schulung und der logischen demokratischen Entwicklung. Der verbürgerlichte Sozialismus und der nur mehr mit nationalökonomischen Maßen und Gewichten rechnende liberale Freisinn scheinen diesen Weg nicht mehr zu schätzen, vermutlich, weil diejenigen, die ihn einmal gegangen sind, kein höheres Ideal mehr keanen als die Verwirklichung der Wünsche ihrer Wähler.

Die Ursachen dieser Entwicklung, die von vielen nicht nur als parlamentsfeindlich, sondern auch als unschweizerisch empfunden wird, sind unschwer aufzuzeigen. An geeigneten Männern, die die politische Stufenleiter in staatsbewußter Pflichterfüllung erklommen haben und bereit und fähig wären, sich um das Mandat eines Nationalrats zu bewerben, fehlt es den Freisinnigen und auch den Sozialisten gewiß nicht. Man hat sie älso^be-wußt ausgeschaltet. Freilich nicht, um Politikern der Parteikarriere Platz zu schaffen, aber die beiden Parteien wollen sich durch jene Männer vertreten sehen, die ihr wirtschaftliches Rückgrat funktionsfähig halten und den Geldgeberapparat der betreffenden Partei kontrollieren: durch Generalsekretäre also, Gremialvorstände, Obmänner und Syndizi.

Gewiß, wenn die einzelnen Gewerk-* schaffen, Interessenverbände und Bünde auch das finanzielle Rückgrat der Sozialistischen und der Liberalen Partei bilden, ist es doch auch umgekehrt der Fall, daß durch das heutige Ineinandergreifen von Politik und Wirtschaft eben diese Arbeitnehmer- und Arbeitgebervereinigungen nur kraft der sie deckenden Parteien aktionsfähig sind. Es besteht also eine Wechselwirkung von zwei Kräften in cjine und dieselbe Richtung, und die für das Einhalten dieser Richtung auf beiden Seiten Verantwortlichen haben sich entschlossen, durch ein Zusammenspannen beider Kräfte die Gesamtwirkung zu erhöhen und durch die Zusammenlegung von wirtschaftlichen (oder sozialen) Interessen mit denjenigen einer Partei die Stellung dieser Partei im Parlament zu festigen.

Aber — und hierin liegt die Verwundbarkeit dieser These: bedeutet das nicht Zwang? Resultiert nicht aus der Koppelung von wirtschaftlichen und parteipolitischen Belangen notwendigerweise eine Identifizierung des Mandatars mit den

Interessen der Wirtschaft (oder ier Gewerkschaft) und eine Zurückstellung des Ideologischen, der Partei also? Ist die Wirtschaft, sind nicht Wirtschaft und Gewerkschaft stärker in ihrer Argumentation, in ihren Beweisführungen und Entschlüssen, weil sie sich auf Zahlen, Tabellen und Indizes stützen können? Muß nicht das Ideologische verkümmern, weil das Interessengebundene vom ethischen Fundament der Partei her nur in seltensten Fällen Nahrung erhalten kann?

Hier scheint die Linie erreicht, die der Schweizer nicht überschreiten will. Die aufgezeigte Entwicklung macht es dem Schweizer Bürger nunmehr unmöglich, als Individuum, als staatsbewußter Eidgenosse am politischen Leben seines Landes entscheidend teilzuhaben, wenn er liberaler oder sozialistischer Einstellung ist — es sei denn, er ist im Zivilberuf

Generalsekretär, Obmann oder Syndikus. Und selbst dann wird er, durch die politischen Erfahrungen seines Landes weiser geworden als so mancher Europäer, zögern, die Last dieser Verantwortung auf sich zu nehmen: wo es geht, die Ziele seines Interessenverbandes mit denjenigen seiner Partei auf einen Nenner zu bringen, wo es nicht geht, die Ziele seiner Partei als ethischen Ballast wirtschaftlicher Kalkulationen abzuwerfen.

Die Schweizer Wähler werden am kommenden letzten Oktobersonntag diesen beiden Parteien, die durch die schwierigsten Jahrzehnte des Weltgeschehens ihr Land in anerkennenswertester Weise mitregierten, ihre Stimmen nicht entziehen. Es ist aber anzunehmen, daß bei dem nächsten Wahlgang in vier Jahren das Echo auf diese Politik der Liberalen und der Sozialistischen Partei erfolgen wird. Der Schweizer kann sich nämlich in vielem mit wenig bescheiden — seiner politischen Ethik jedoch läßt er keinen Fußbreit Boden abringen. Als gutes Zeichen erscheint in diesem

Sinne die Haltung der Katholisch-Konservativen Partei: sie hat die Umwandlung des Nationalrats vom parteipolitischen zum wirtschafts- und sozialpolitischen Forum als eine Gefahr für den Fortbestand der Demokratie helvetischer Prägung erkannt, und diese Ansicht spiegelt sich in der Zusammensetzung ihrer Wahlliste deutlich wider. Es ist zu hoffen, daß diese Partei, die drittstärkste im Berner Bundeshaus, in den kommenden Sessionen zum Hort der politischen Ethik des Schweizer Volkes wird.

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