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Ein doppelköpfiges Kabinett

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Zunächst die Tatsachen: Aus Anlaß seiner offiziellen Amtseinsetzung hat General de Gaulle eine Kabinettsumbildung bekanntgegeben, die vor allem im Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik einschneidende personelle Änderungen aufweist. Die Stelle des Finanzexperten Giscard d’Estaing, der der Nationalversammlung als Führer einer Gruppe der Unabhängigen — der sogenannten „Giscardisten” — angehört, hat der persönliche Vertraute de Gaulles und erste Ministerpräsident der Fünften Republik, Michel Debrė, übernommen, die unter Einbeziehung der Sozialpolitik mit erweiterten Befugnissen ausgestattet worden ist. Debrė wurde gleichzeitig Chef eines Wirtschaftskabinetts, was ihm eine direkte Einflußnahme auf die Tätigkeit von insgesamt acht Ressorts — darunter auch auf das Landwirtschaftsminisrterium — sichert. Der bisherige Landwirtschaftsminister, Edgar Pisani, übernahm das Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung, dem sozusagen als Unterressorts die Ministerien für Verkehr, öffentliche Arbeiten, Gebietsentwicklung und Raumordnung angehören. Als neuer Land- wirtschaftsminister tat der ehemalige radikalsozialistische Abgeordnete Edgar Faure ins neue Kabinett Pompidou ein, der in der Vierten Republik zweimal Ministerpräsident und dazwischen Finanzminister gewesen ist. Später erklärte er sich offen als Anhänger der Außenpolitik de Gaulles und wurde vom General bei mehreren Gelegenheiten mit delikaten Auslandsmissionen betraut. Eine dieser neben der offiziellen Politik des Quai d’Orsay durchgeführten Erkundungen führte zur diplomatischen Anerkennung Rotchinas durch Frankreich.

Öffnung nach links

Auf den ersten Blick wird dem Betrachter klar, worauf es de Gaulle bei der Regierungsumbildung vor allem angekommen ist: Durch eine spektakuläre „Öffnung nach links” — vornehmlich durch die Aufnahme des „Linksgaullisten” Michel Debrė und des ehemaligen Radikalsozialisten Edgar Faure in das Kabinett — sollte der breiten Öffentlichkeit mit dem Blick auf die Legislaturwahlen, die im Normalfall im März 1967 stattfinden werden, demonstriert werden, daß der General die sozialen Fragen in den Vordergrund rük- ken wolle. Die Hauptsorge der Regierung gilt der optischen und psychologischen Wirkung, nachdem die Sondierungen der Meinungsinstitute das bei den Staatspräsidentenwahlen sichtbar gewordene Abbröckeln der Regierungsgefolgschaft bei den Massen einmütig auf den am 12. September 1963 eingeleiteten Stabilisierungsplan des Finanzministers Giscard d’Estaing. die bisherige gaullistische Europapolitik und die Unzufriedenheit der Landbevölkerung mit ihrem Schicksal zurückführten. Der vielzitierte „Mann auf der Straße” soll den Eindruck gewinnen, daß nunmehr ein neuer Wind wehit — und zwar nicht allein bei den Regierungsstellen, sondern auch bei der Gaullistenpartei UNR, diie zum 13. Jänner ihre politische Kommission einberufen halt, um über Mittel und Wege einer umfassenden politischen Reorganisation au beraten.

Mehrheit neun Stimmen fehlen. Vorerst scheint diese Gefahr nicht zu bestehen, da eine Neuformation der Unabhängigen vor den Wahlen als nicht unwahrscheinlich gilt. Die meisten „giscardistischen” Abgeordneten wurden 1962 gewählt oder wiedergewählt, ohne daß sich ihnen ein UNR-Kandidat in den Weg stellte. Allgemein wird vermutet, daß sie auch für 1967 ein ähnliches Entgegenkommen bei den Gaullisten vorzufinden wünschen. Trotzdem wollen in Paris Gerüchte nicht verstummen, nach denen sich die Giscardisten bereits auf den „Nachgaullismus” einstellen und Voraussetzungen erwägen, unter denen sie ein Auffangbecken für etwaige gaullistische Renegaten sein könnten. Audi eine Annäherung der Unabhängigen — und zwar sowohl der Giscardisten als auch derjenigen, die bisher jede Zusammenarbeit mit den Gaullisten, ablehnten — an das Demokratische Zentrum Jean Lecanuets darf als Zukunftsmöglichkeit nicht ausgeschlossen werden.

Giscard d’Estaing hat zwar erklärt, daß er auf seine Freunde Einfluß nehmen wolle, um sie zum Verbleib in der Koalition zu bewegen, er fügte jedoch hinzu, daß ihm dies nicht leichtfallen werde. Vielleicht sollte auch ein psychologischer Faktor berücksichtigt werden, der die problematische Lage der Koalition im Parlament kennzeichnet: Giscard hat das Kabinett stark verstimmt verlassen, nachdem er erfuhr, daß sein bisheriger Posten mindestens eine Woche vor der erfolgten Umbildung Michel Debrė angeboten worden war, ohne daß man ihn über die geplante Umbesetzung informiert hätte. Es lag auf der Hand, daß er die Weiterführung des Finanzressorts unter der Oberaufsicht Debrės zurückweisen mußte, da er wenig Lust verspürte, ein „bloßer Ministerstatist” zu sein. Auch war es durchaus verständlich, daß er zwei technische Ministerien, die man ihm sehr beflissen antrug, ausschlug, da ihm als einziges Äquivalent für seine bisherige Schlüsselstellung im Kabinett das Außenministerium erschien.

die Information eine besondere Rolle spielen. Gegensätzliche Meinungen sollten zu Gehör kommen, da die Äußerung verschiedener Konzeptionen in der Öffentlichkeit der Regierung und dem Staat nur dienlich sein könnte.

Ungewisse Zukunft

Fraglos werden die kommenden Monate eine Reihe von Neuerungen bringen, wobei die Lockerung der Kreditbremse nur eines unter vielen Elementen sein dürfte, wenn man auch kaum mit einer radikalen Abkehr von der bisherigen Stabilisierungspolitik rechnen kann. Was jedoch dem Beobachter immer wieder ins Auge fällt, ist die schmale Basis der Regierung, die nicht einmal über eine parlamentarische Mehrheit verfügt und theoretisch jeden Augenblick durch einen Mißtrauensantrag gefährdet werden könnte.

Das Ganze erscheint, nicht zuletzt auch im Hinblick auf die personelle Zusammensetzung des Kabinetts, wie eine auf kurze Frist berechnete Improvisation. Robert Bony schreibt in „Aurore”, daß die Hypothese eines Liebäugelns mit dem Artikel 16 der Verfassung, der dem Staatspräsidenten für außergewöhnliche Zwangsfälle besondere Vollmachten einräumt, angesichts der Tatsache, daß der Sturz einer Regierung die Integrität des nationalen Territoriums nicht gefährde, als beleidigend zurückgewiesen werden müssen. Dagegen hält er es für wahrscheinlich, daß der Staatspräsident nach der Bildung und im Vertrauen auf den sozialen Charakter, den ihr Michel Debrė zu geben beabsichtigt, die Möglichkeit einer Auflösung der Nationalversammlung nach der Annahme eines für diesen Zweck geschaffenen Wahlgesetzes in Betracht gezogen habe. Der Publizist glaubt, daß ein derartiges Unternehmen mißlingen müsse. Erstens habe Debrė trotz aller Vollmachten, die er sich habe erteilen lassen, im sozialen Sektor nichts zu verteilen und zweitens würden die „Giscardisten”, die an der Ausbootung ihres Chefs den Wert der vom Regime und seiner bedingungslosen Repräsentanten übernommenen Verpflichtungen zu messen wissen würden, ein derartiges Wahlgesetz verhindern.

Gefahr der „Doppelköpfigkeit”

Nicht minder bedenklich erscheint— neben der nunmehr auf tönernen Füßen stehenden Regierungsmehrheit — der Dualismus zwischen Premierminister Georges Pompidou, dessen Stellung als Koordinator und oberste Spitze des Kabinetts rein nominell geworden zu sein scheint, und den mit ungewöhnlichen Vollmachten ausgestatteten „Superminister” Michel Debrė, von dem man kaum annehmen kann, daß er sich irgend jemandem — außer dem General — unterwerfen würde. Selbst der „Figaro” spricht von der „Gefahr der Doppelköpfigkeit”. Wie ernst sie ist, wird man ermessen können, wenn man sich daran erinnert, daß Debrė unmittelbar nach dem ersten Wahlgang, der de Gaulle zwang, sich der Stichwahl zu stellen, den Ministerpräsidenten offen kritisierte und ihm vorwarf, die Kandidatur Jean Lecanuets nicht zu verhindern gewußt au haben. Dies läßt logischerweise auch für die Zukunft Reibungen und Differenzen vermuten, es sei denn, daß sich Pompidou mit einer Schattenrolle bescheiden sollte.

Von Debrė wird erwartet, daß er eine expansionsfreundlichere und elastischere Politik als sein Vorgänger treiben wird, vor allem im Bereich der Preise und der Kredithandhabung, freilich müßte die Wirtschaft auch mit der Möglichkeit rechnen, daß er — entsprechend seiner früheren Praxis als Ministerpräsident — die dirigistische Rolle des Staates in noch stärkerem Maße als Giscard d’Estaing betonen wird. Im übrigen hat er seine Orientierung mit zwei Schlagworten umrissen: „Sozialer Fortschritt” und „Recht auf Information”. So schrieb er in diesen Tagen im offiziellen Organ der Gaullistenpartei „La Nation”: „Vom innenpolitischen Standpunkt fällt dem sozialen Fortschritt die Priorität der Aktion zu.” Im übrigen — so fuhr er fort — werde künftig

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