6719076-1965_04_07.jpg
Digital In Arbeit

Ein neues Pulverfaß?

Werbung
Werbung
Werbung

Die allgemeine politische Lage in Nigeria ist nach den abgehaltenen Parlamentswahlen beinahe chaotisch. Zwar bahnt sich ein eindrucksvoller Sieg der „Nationalen Allianz“, der vor allem auf die Neger zählenden Partei des Ministerpräsidenten Tafwa Balewa an, die fast 200 Mandate gegenüber den einigen dreißig Sitzen der oppositionellen „Fortschrittlichen Allianz“ (Moslembevölkerung) errungen hatte, trotzdem wird Balewa Schwierigkeiten haben, eine neue Regierung zu bilden.

Die verzweifelt kämpfende Opposition hatte zum Wahlboykott aufgerufen. Die Boykottparole wurde vor allem im Osten des Landes befolgt. Im Westen versuchte die Opposition die Durchführung der Wahl durch Gewalt zu verhindern: es wurden Urnen gestohlen und bei den Wahllokalen wartende Wähler überfallen, wobei es auch mehrere Tote gab. Ob Präsident Azikiwe daraufhin die Wahlen annullieren wird, ist noch ungewiß. Er erklärte zwar, daß die verheerenden Zwischenfälle bei der Wahl „moralisoh nicht zu rechtfertigen“ seien, doch glauben die Beobachter in Lagos an keine Wahlwiederholung.

Seit den letzten Wahlen (1959) hat sich die politische Situation im Lande stark verändert. 1960 wurde die Unabhängigkeit Nigerias ausgerufen. Es erfolgte eine bedeutende Umgruppierung der politischen Kräfte. Die bisherige Regierung stellte eine Koalition der zwei größten Parteien des Landes dar: des „Nördlichen Volkskongresses“ (NPC) und des „Nationalrats der nigerianischen Bürger“ (NCNC). Den führenden Posten in der Regierung nahm die NPC ein (Ministerpräsident, Minister für wirtschaftliche Entwicklung, Handel und Industrie, des Ver-teidigungs- und des Innenministers). Im Wahlkampf standen sich die einstigen Koalitionsparteien feindlich gegenüber, die Partner von gestern traten als Rivalen von heute auf.

Die erste und nun siegreiche Gruppierung der NPC-Partei nennt sich „Nationale Allianz“ und wurde im August 1964 gegründet. Zu ihr gehören der „Nördliche Volkskongreß“, die „Nigerianische Nationaldemokratische Partei“, die „Demokratische Front“ und der „Kongreß des Nigerdeltas“. Im September schloß sich noch die sogenannte „Dynamische Partei“ diesem großen Sammelbecken, meist bürgerlich-nationaler Gruppierungen, an.

Die zweite und nunmehr stark unterlegene Gruppe bildete die einstige Partei der NCNC, die „Aktionsgruppe“ und die „Nördliche Fortschrittsfront“.

Die beiden politischen Gruppierungen haben in Nigeria keine gemeinsamen Anschauungen, oft auch keine eigene Ideologie. Die politischen Hauptparteien des Landes wurden vor allem nach der nationalen beziehungsweise stammesmäßigen Herkunft gegründet. Sie nehmen die Interessen bestimmter Völkerschaften wahr. So ist zum Beispiel der NPC die Partei der größten Völkerschaft Nordnigerias, der Fulah und der Hausa; der „Nationalrat der nigerianischen Bürger“ genießt großen Einfluß bei den Ibo, einer Völkerschaft der Ostregion. Die Yoruba, die größte Völkerschaft der Westregion, hingegen unterstützt wiederum die „Aktionsgruppe“. Selbstverständlich hat der Kampf der Parteien, die sich nun zu Blocks zusammengetan haben, mitunter auch den Charakter offener Zwistigkeiten zwischen den Stämmen.

Neben der Stammesbedingtheit der einzelnen Parteien zeigt sich auch eine soziale Verschiedenheit im innerpolitischen Parteileben. Der „Nördliche Volkskongreß“ vertritt vor allem die Interessen der Feudalspitze und der Emire der Nordregion, während die Politik der „Aktionsgruppe“ die linksbürgerlichen Elemente Westnigerias repräsentiert.

Die Parteien der „Nördlichen Fortschrittsfront“ setzen sich hauptsächlich aus kleinbürgerlichen Schichten der Nordregion (kleinen Kaufleuten, Handwerkern usw.) zusammen.

In außenpolitischer Hinsicht — wo die stammesmäßigen Zwistigkeiten keine Rolle spielen — verkündeten beide Blocks ihre Absicht, eine ungebundene Politik zu betreiben und die üblichen Schlagworte von der Unterstützung der nationalen Freiheitsbewegungen in den abhängigen Territorien; mit allen Völkern, besonders mit den afrikanischen, Freundschaft zu halten, mit der Organisation der Afrikanischen Einheit und mit der UNO zusammenzuarbeiten.

Da die von Moskau gesteuerten Kommunisten in Nigeria in keiner der beiden großen Gruppierungen gebührend aufgenommen wurden, gründeten sie kurzerhand eine eigene Partei, die sogenannte „Nigerianische Sozialistische Arbeiter- und Bauernpartei“, die prompt sang- und klanglos bei den Wahlen durchfiel.

Die bisherigen 312 Sitze im Parlament verteilten sich, entsprechend den ländlichen Gepflogenheiten, auf fünf Regionen: Nordregion (167 Sitze), Ostregion (70), Westregion (57), Mittelwestregion (14) und die Hauptstadt Lagos (4).

Da der „Nördliche Volkskongreß“ in den meisten Wahlkreisen Nordnigerias den Sieg errang und seine südlichen Verbündeten einen großen Teil ihrer Abgeordneten in den entsprechenden Wahlkreisen der übrigen Provinzen durchbringen konnten, ist die „Nationale Allianz“ gegenwärtig in der Lage, die neue Regierung zu bilden.

Für die verhältnismäßig schwache Opposition blieb — wie bereits gesagt — nichts anderes übrig, als die Wahlen zu boykottieren, und zwar mit viel weniger Erfolg, als sie es selbst erhofft haben.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung