Ein Staat, der sich sein Volk hält

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Putin führt Russland in eine gelenkte Demokratie, in der organisierte Opposition ausgeschaltet wird und sich der zaristische Hof wohlgesonnene Parteien hält.

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Putin führt Russland in eine gelenkte Demokratie, in der organisierte Opposition ausgeschaltet wird und sich der zaristische Hof wohlgesonnene Parteien hält.

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Der Übergang Russlands zu einem demokratischen Regime war mühsam, konfliktreich und von zahlreichen Rückschlägen geprägt - auch deshalb: n weil die Mehrzahl der Führer, die als demokratische Reformer angetreten waren, die Losung der Demokratie lediglich dazu benutzt haben, persönliche Machtansprüche und Ambitionen durchzusetzen; n weil unter deren Duldung, bisweilen sogar aktiver Förderung, eine kleine Schicht von Günstlingen sich schamlos bereichern und das staatliche Vermögen plündern konnte; n weil der Staat sich seiner Verantwortung für die existentiellen Bedürfnisse seiner Bürger entledigte und von einer macht- und besitzgierigen Kamarilla privatisiert und korrumpiert wurde. Mehr als ein Jahrzehnt nach der intellektuellen Euphorie über die Möglichkeit, Russland zu demokratisieren, bietet sich ein düsteres Bild, in dem die wenigen Keime ziviler Autonomie und demokratischer Regungen von einer bürokratischen Staatsmaschine, die sich dem Ziel verschrieben hat, Russland als starken Staat wiedererstehen zu lassen, niedergewalzt werden könnten.

An der Wiege der russländischen Demokratie standen zwei Staatsstreiche: zunächst ein gescheiterter, rückwärtsgewandter national-imperialer Putsch der Sicherheitskräfte im August 1991, der die Sowjetunion zur Implosion getrieben und Russland die Unabhängigkeit eröffnet hat; dann ein erfolgreicher, rücksichtsloser Staatsstreich Boris Jelzins im Herbst 1993, der unter dem Banner der demokratischen Reformen einen, von byzantinischen Ränkespielen geprägten, zaristischen Hof unter Duldung demokratischer Fassaden installiert hat. Nachdem das gewählte Parlament gewaltsam auseinandergejagt worden war, wurde in der scheindemokratischen Übung eines Plebiszites eine neue Herrschaftsordnung verankert.

Verfassung als Spiel Darin liegt denn auch einer der Geburtsfehler der russländischen Demokratie; deren Verfassungsgrundlagen sind in einem rechtlich umstrittenen Referendum nach bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen angenommen worden. Die Verfassung kann daher nicht als Ausdruck des Konsenses aller relevanten Elitenakteure, sondern muss als einseitige Durchsetzung der Interessen einer Konfliktpartei angesehen werden. Die Verfassung ist zwar in der Herrschaftswirklichkeit in der Folge von allen politischen Akteuren zur Kenntnis genommen, aber keineswegs anerkannt worden. Russland fehlt damit ein von Elitenkonsens getragener Verfassungspatriotismus.

Die russländische Verfassung gleicht daher dem Regelwerk eines Spieles, das von dem vorherbestimmten Sieger geschrieben wurde, um eben dieses immer wieder zu gewinnen. Der Staatspräsident als paternalistischer Herrscher sichert sich eine Kompetenzfülle, die Entscheidungen gegen ihn unmöglich, nahezu unkontrollierte Autorität für sich selbst in der Lenkung der Regierungsgeschäfte aber zur nahezu ausnahmslosen Regel machen. Die verantwortliche Mitwirkung des Parlaments am politischen Entscheidungsprozess ist verfassungsrechtlich beschnitten, die politischen Mehrheitsverhältnisse im Parlament weitgehend bedeutungslos und der Wahlakt des Bürgers damit weitgehend entwertet. Politik ist in Russland in der Mehrheit der Politikfelder ohne und gegen das Parlament möglich.

Obwohl die Verfassung den Interessen der präsidialen Exekutive entsprechend verfasst worden war, wurde die Verfassung als Rechtsrahmen nicht konsequent akzeptiert: Die Verfassungsnormen haben durch die Exekutive in den vergangenen Jahren mehrfache Beugungen erfahren; Verfassungsnormen schienen interpretier- und gestaltbar angesichts vitaler Interessen der exekutiven Staatsgewalt. Die genannten Beugungen des Verfassungsrechtes wurden begleitet von der realen Furcht, dass die präsidiale Exekutive die eigene Verfassung offen brechen und zu einer autoritären Herrschaft übergehen würde. Politik wurde zu einem Spiel, in dem sich alle Spieler aus Furcht vor dem Jähzorn des Spielleiters, dessen Willen zu fügen bereit waren - aus Angst, dieser könnte das Spiel einfach beiseite schieben und alleine ein anderes beginnen. Die Angst vor den Konsequenzen einer verfassungswidrigen Regelung von Konflikten hat daher alle relevanten politischen Akteure, auch die linksorientierten Abgeordneten der Staatsduma, zu deeskalierenden, bisweilen informellen, Aushandlungsverfahren bewogen. Das hat Russland eine relativ stabile innere Entwicklung ermöglicht, der Preis dafür aber war der Verlust an demokratischer Kontrolle, Öffentlichkeit und Verantwortlichkeit.

Rechtsstaatliche Normen werden in Russland unzureichend als Begrenzungen staatlicher Macht angesehen; Macht ist noch immer rechtsleitend, Recht noch zu wenig machtbestimmend und begrenzend: Die Unabhängigkeit der Justiz ist in Russland (noch immer) nicht gewährleistet; die Herrschaftspraxis der vergangenen Jahre zeigt mehrfache Interventionen der Exekutive auf der föderalen, insbesondere aber auch auf der Ebene der Provinzen in die Tätigkeit der Gerichte. Dies gilt noch mehr für die Strafverfolgungsbehörden. Die (General-)staatsanwaltschaft wurde in den vergangenen Jahren systematisch den Interessen der politischen Führung untergeordnet. Rechtsstaatswidrig ist dabei auch die selektive Rechtsanwendung, die nach politischen Erwägung erfolgt, oder aber ausbleibt. Die selektive, politisch motivierte Anwendung von Rechtsnormen durch Strafverfolgungsbehörden und Gerichte ist aber mit einer liberal-konstitutionellen Demokratie nicht vereinbar.

Russland ist formal ein demokratischer Verfassungsstaat, eine "elektorale Demokratie", in der die Zuteilung und Aberkennung von politischer Entscheidungsmacht über den Mechanismus von allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlen erfolgt. Dennoch ist der Herrschaftszugang beschränkt oder zumindest stark kontrolliert: Wahlen finden statt, aber kann auch (aus-)gewählt werden? Keine der seit 1991 durchgeführten Wahlen konnte bislang als ausreichend fair bezeichnet werden; die Wahlauszählung war immer wieder durch Unregelmäßigkeiten gekennzeichnet. Nach einer Umfrage vom September 2000 glauben 52,8 Prozent der Befragten nicht an "freie" und "ehrliche" Wahlen in Russland. Wahlen verkommen dadurch zu einem zynischen Spiel, das Resignation und Ohnmacht auf der Seite der Wähler, Geringschätzung und Verachtung auf der Seite der Gewählten ausdrückt - ein Wahrnehmungs- und Wertemuster, das den Wahlakt zu diskreditieren droht und sich auch in den (relativ) niedrigen Beteiligungsraten widerspiegelt.

Zu beachten ist zudem, dass die mögliche Aussetzung oder Verschiebung von demokratischen Wahlen von relevanten politischen Akteuren seit 1992 immer wieder diskutiert wurde; Gerüchte über eine Aussetzung der (Präsidenten-)wahlen entstanden immer dann, wenn die Gefahr des Elitenaustausches durch Wahlen ernsthaft zu bestehen schien. Das zähe Geflecht aus Korruption, Bestechung, Günstlingswirtschaft und Unfähigkeit ließ sich durch Wahlen nicht aufbrechen.

Russland stirbt aus Die politische Wüste der Jelzin-Jahre wurde ergänzt durch den gefährlichen Treibsand wirtschaftlichen Verfalls. Die mit westlicher Anleitung durchgeführten wirtschaftlichen Reformen sind eine Geschichte der Enteignung; die Geschichte der durch Hyperinflation entwerteten Spareinlagen der Bürger, der sinkenden Realeinkommen und der vorenthaltenen Löhne und Renten, der durch dubiose Investmentfonds veruntreuten Aktiengutscheine der Bürger an zu privatisierenden staatlichen Betrieben, deren Vermögenswerte letztlich auf ausländische Konten transferiert wurden.

Die Wirtschafsreformen sind aber auch eine Geschichte der räuberischen Aneignung von staatlichem Vermögen zu niedrigen Preisen. Die Verfilzung von Unternehmern und staatlichen Bürokraten schuf eine kleptokratische soziale Schicht, deren Reichtum auf vorteilhaften Export- und Importlizenzen, der Verwaltung von staatlichen Vermögens- und Budgetfonds und der Aneignung von staatlichen Betrieben deutlich unter deren Marktwert beruhte.

Der neoliberale Zauber der russländischen Wirtschaftslehrlinge, kunstvoll inszeniert von den, in westlichen Regierungskreisen hofierten, "Reformern" Cubajs, Gajdar oder Koch hat diesen Illusionisten Wohlstand, dem Land aber einen dramatischen Einbruch an Wirtschaftskraft, Deindustrialisierung, den Zusammenbruch der medizinischen Versorgung, eine Aushöhlung des Bildungssystems und einen Bevölkerungsrückgang beschert, der für industrielle Gesellschaften bislang nur als Folge eines Krieges möglich schien: Russland, das 1990 beinahe 150 Millionen Bürger zählte, stirbt sich bis 2050 auf 80-100 Millionen überlebende Seelen zurück.

Nachdem Russland durch die "Familie" Jelzin in den moralischen und wirtschaftlichen Bankrott geführt worden war, schien die Abdankung der korrupten Träger des Regimes greifbar nahe. Doch statt der erhofften Selbstreinigung, demonstrierte seine Führungselite ein beachtliches Beharrungsvermögen. Der kleine Volodja, der als junger Mann ausgezogen war, um im Dienst der Staatssicherheit für die Tugenden der Disziplin, des Patriotismus und der Größe des Vaterlandes zu werken, hat den zaristischen Thron als Vladimir Putin bestiegen. Putin, der selbst aus den alten Strukturen hervorgekommen war, verkörpert den starken Änderungswillen unter den russländischen Bürgern, reduziert und kanalisiert bestehende Ängste, verkörpert Führungsstärke. Putin ist in der Lage, die Zuversicht in die Bereitschaft und Fähigkeit des Staates zu wecken, lange ungelöste Probleme zu beseitigen.

Obwohl Putin zweifellos von der - in der Bevölkerung verhassten - "Familie Jelzin" als Retter ihrer Interessen aufgebaut wurde, wird er von der russländischen Bevölkerung nicht mit dieser assoziiert. Auf den Leichenbergen des Krieges im Nordkaukasus und mit der zynischen Manipulation der öffentlichen Meinung durch strikte Medienkontrolle liess sich die Kremlfestung halten. Unterstützt wurde die Wahrnehmung Putins als effizienter Problemlöser durch die relativ günstige wirtschaftliche Entwicklung (erklärbar durch den Importsubstitutionseffekt der Rubelabwertung seit August 1998 und der gestiegenen Preise auf den internationalen Rohölmärkten) und die, aufgrund der wachstumsbedingt höheren Staatseinnahmen mögliche, Auszahlung der rückständigen Löhne, Gehälter, Stipendien und Pensionen.

Reform der Reform Das Land kann nunmehr hoffen - ein krankes Land, das von einem kranken Führer gelenkt worden war, hat zumindest die letztere Bürde abgeschüttelt. Nun beginnen wieder Reformen, die Reformen der Reformen. "Wir wollten alles besser machen, aber es kam wie immer" klagte vor Jahren ein Mitglied der russländischen Führungskaste. Volodja glaubt immer noch an das Bessere, vor allem aber glaubt er daran, zur Erfüllung dieser Mission in der Lage zu sein. Putin hat den Staat wieder entdeckt, aber es ist kein Staat der Bürger, sondern ein Staat, der sich ein Volk hält. Putin führt Russland in eine gelenkte Demokratie, in der organisierte Opposition ausgeschaltet werden soll. Die unübersichtliche Parteienlandschaft wird durch ein neues Gesetz auf ein "ordentliches und vernünftiges Maß" zurechtgetrimmt. Der zaristische Hof hält sich Parteien, die ihn unterstützen, aber auch eine kleine Opposition, die mit lautem kommunistischen Getöse gegen die Mächtigen wettert, sich dann aber gerne an deren Futtertröge setzt.

In Putins neuer Demokratie darf es auch Medienfreiheit geben - in den kleinen Zeitschriften, die nur wenige Tausend Bürger lesen (können oder wollen); die elektronischen Medien aber sind zu bedeutsam, um sie der Freiheit der Journalisten zu überlassen. Die zivile Gesellschaft wird ebenso in ihre Grenzen verwiesen; Menschenrechts- und Umweltaktivisten finden sich immer häufiger in den Gefängniszellen wieder, natürlich rechtmäßig überführt, "ausländische Agenten" zu sein. Und über allem wacht die Staatssicherheit, die sich wuchernd über das Land ausbreitet, als Beschützer der neuen Demokratie, der gelenkten, wie sie Russland angeblich benötigt.

Putins Stärke ist der Umstand, dass ihm jene, die ihm tief in die Augen schauen, Vertrauen schenken.

Der Autor ist Assistent am Institut für Politikwissenschaft der Universität Innsbruck.

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