Ein Stück weit leben AUF DER FLUCHT

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Natürlich sind die Herausforderungen durch und die Probleme für die Flüchtlinge im Libanon enorm. Gerade im Bildungsbereich bieten NGOs "intelligente" Hilfe an.

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Natürlich sind die Herausforderungen durch und die Probleme für die Flüchtlinge im Libanon enorm. Gerade im Bildungsbereich bieten NGOs "intelligente" Hilfe an.

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Jbeil liegt 40 Kilometer nördlich von Beirut am Mittelmeer. Die Ausgrabungen des antiken Byblos sind beeindruckend. Das heutige Jbeil ist eine pulsierende Stadt, wie in vielen Orten an der libanesischen Mittelmeerküste sind die Flüchtlinge aus Syrien nicht auf den ers ten Blick zu sehen. Dennoch leben in der Region Tausende, oft in gemieteten Wohnungen, wo sie horrend hohe Mieten - man erzählt von 300 US-Dollar im Monat für einen Raum - zahlen, eine Familie, manchmal auch zwei müssen sich einen einzigen Raum teilen.

Einige hundert Meter abseits der Schnellstraße von Beirut in den Norden auf den Hängen des Libanongebirges, das bis zum Meer reicht, findet sich ein dreistöckiges Gebäude, in dem der Jesuiten-Flüchtlingsdienst JRS eine Schule für 400 Kinder untergebracht hat. Der libanesische Staat will, erzählt Maya Yaacoub, JRS-Projektleiterin in Jbeil, dass möglichst viele Kinder die öffentlichen Schulen besuchen. Das gestaltet sich allerdings schwierig, obwohl die Schulen im Zweischichtbetrieb laufen, das heißt, es gibt am Vormittag den ersten Unterrichtsturnus, und am Nachmittag einen zweiten.

Für öffentliche Schulen fit machen

Flüchtlingskinder, so Yaacoub, stehen vor großen Schwierigkeiten. Zum einen haben viele über einen längeren Zeitraum keine Schule besucht und müssen viel Stoff nachholen. Zum anderen unterscheidet sich der libanesische Lehrplan vom syrischen: Im Libanon werden Mathematik und naturwissenschaftliche Fächer auf Englisch oder Französisch unterrichtet, die syrischen Kinder müssen diese Sprachen erst erlernen. Außerdem, erzählt Yaacoub, seien die Lehrer in den öffentlichen Schulen, die nun auch am Nachmittag unterrichten müssen, mit den Schülern, die ja oft traumatisiert sind, überfordert. In der "Jbeil Charity School" mit ihren 24 Lehrern sei es ein pädagogisches No-Go, Schüler anzubrüllen oder gar zu schlagen. Das ist in den staatlichen Schulen ganz und gar nicht selbstverständlich.

Weil der Besuch staatlicher Schulen das Ziel ist, steht die Bildungsarbeit in der JRS-Schule in Jbeil auf zwei Füßen: Einerseits werden Vier- bis Sechsjährige auf den Schulbesuch vorbereitet, die Kinder lernen hier bereits Schreiben und Lesen und eignen sich Grundbegriffe von Rechnen und Englisch an. In diesen "Kindergarten"-Klassen findet Unterricht wie in der Schule statt. Das zweite Standbein sind Lernhilfe-Klassen für Größere, die dann am Nachmittag in die öffentliche Schule gehen. Am Vormittag machen sie, von den Pädagogen betreut, ihre Hausaufgaben und versuchen ihre Bildungslücken aufzufüllen.

Umgang mit seelischen Verwüstungen

Das Lehrpersonal setzt sich aus Libanes(inn)en und Syrer(inne)n zusammen, man sei bestrebt, syrische Pädagogen, die mit der Lebenswelt der Kinder vertraut sind, einzusetzen. Gassia, die Direktorin des Vormittagsturnus, stammt etwa aus Aleppo. Sie war dort auch schon Schuldirektorin und ist vor drei Jahren in den Libanon geflüchtet.

Natürlich kann die Schule nur einen kleinen Teil syrischer Kinder aufnehmen. JRS-Teams - eine Frau und ein Mann - machen Besuche in den Flüchtlingsquartieren, die Teams bestehen oft selber aus syrischen Flüchtlingen: Sie betreuen die Familien und unterstützen sie mit Lebensmittelpaketen, aber auch psychosozialen Angeboten. Denn, so Maya Yaacoub, die seelischen Verwüstungen sind enorm. Das reicht von autistischem Verhalten und Phobien bis zu Alkoholismus und Gewalt. Vor allem Männer, die Frauen und Kinder schlagen, seien ein enormes Problem. Bei diesen Hausbesuchen werden auch die 400 Schulplätze vergeben.

Sichtbare Flüchtlinge in der Bekaa-Ebene

Im Gegensatz zur Küstenregion um Beirut sind die Flüchtlinge im Osten des Landes sichtbarer: Wenn man von Beirut über die kurvige Schnellstraße nach Damaskus das Libanongebirge überwindet, erreicht man die Bekaa-Ebene, jenes Hochtal, das vor dem Antilibanon liegt, wo sich die Grenze befindet. Auch dort gibt es keine großen Flüchtlingslager, aber man fährt, wo auch unterwegs, an zahllosen kleinen Zeltsiedlungen, "Informal Tent Camps" genannt, vorbei.

Fady Tabbah, JRS-Projektkoordinator in der Stadt Barelias, erzählt, dass viele der kleinen Lager sich jeweils aus Bewohnern einer Ortschaft in Syrien zusammensetzen. Auch hier machen libanesische Grundbesitzer ihren Reibach: Die Flüchtlinge müssen den Zement für die Betonplatte zahlen, auf der ihr Zelt steht, und dann monatlich pro Zelt 100 US-Dollar Stellgebühr berappen. Dazu kommen noch 20 Dollar für Elektrizität - auf vielen Zelten sind Satellitenschüsseln montiert. Vor allem die Männer sitzen den ganzen Tag vor dem Fernseher und verlassen das Zelt kaum. Und sie schauen Kriegsnachrichten, was die Kinder der Familien weiter belastet. Das Zelt selbst wird meist von UN-Organisationen zur Verfügung gestellt. Grundbesitzer können so 3000 bis 4000 US-Dollar im Monat lukrieren -viel mehr, als wenn sie ein Feld bestellen würden: Diese Angaben Tabbahs deuten an, welch sozialer Sprengstoff sich hier auftut.

Auch in der Bekaa-Ebene sollen die Flüchtlingskinder staatliche Schulen besuchen. Auch hier müssen die syrischen Kinder verlorene Schulzeit aufholen und die Unterrichts-Zweitsprachen Englisch und Französisch lernen. So findet sich im Lager Telyani, das aus 70 Zelten besteht, eine Schule, die die libanesische NGO Kayani Foundation errichtet hat: Auch das Schulgebäude darf nach Regierungsvorgaben nicht "dauerhaft" sein; so wurde - in Zusammenarbeit mit der Amerikanischen Universität Beirut -ein genial einfaches und praktisches Modell entwickelt, auf einem Beton-Fundament höchst funktionelle Holzbaracken, die rund um einen quadratischen Platz angelegt sind, zu errichten. Hier werden 500 syrische Kinder unterrichtet -Kindergarten-Klassen und wieder Lernhilfe-Klassen für die älteren Schüler, die dann am Nachmittag in die öffentliche Schule gehen. Der Jesuiten-Flüchtlingsdienst betreibt diese Schule, der Großteil der Lehrer stammt hier aus Syrien. Auch Amina, die Direktorin, leitete eine Schule in der Gegend von Homs, bevor sie ihre Heimat verlassen musste. Man sieht der ebenso freundlichen wie resoluten Lehrerin an, welche Freude sie als Lehrerin hat, auch wenn sie die mehrhundertköpfige Rasselbande von jungen Leuten auf dem Schulhof zu bändigen hat.

In der Schule erhalten die Kinder täglich eine Mahlzeit, die aus einem gefüllten libanesischen Fladenbrot und einem Stück Obst besteht. Die Schule ist ein Idyll im Vergleich zu dem, was den Kindern sonst zugemutet wird. Viele der Buben, erzählt JRS-Projektleiter Tabbah, werden ab etwa elf Jahren von den Eltern zum Arbeiten (oder zum Betteln) geschickt und von der Schule genommen. Und Mädchen werden schon mit zwölf oder 13 Jahren verlobt und verlassen dann ebenfalls die Schule. So bleiben neben der eigentlichen Bildungsaufgabe viele andere Herausforderungen, auch die extrem niedrigen hygienischen Standards, unter denen die Menschen leben, sind zu bewältigen.

In die Schule des Camps Telyani ist mittlerweile eine Clown-Gruppe der Amerikanischen Universität Beirut gekommen. Alle Kinder sind im Schulhof, um den Späßen der Studenten zuzuschauen. Ein kleiner Ausbruch aus dem Alltag, aber jede kleine Abwechslung ist hier längst ein Segen.

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