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Indien steht am Beginn durchgreifender Veränderungen in seiner gesamten wirtschaftlichen und sozialen Struktur. Der zweite Fünfjahrplan sieht gewaltige Anstrengungen vor, um die Entwicklung einer modernen Großindustrie zu beschleunigen. Projekte sind ausgearbeitet und zum Teil schon auf dem Wege der Verwirklichung, um auf der Grundlage der neuesten wissenschaftlichen und technischen Errungenschaften die industriellen Anlagen zu errichten, die das Land mit Stahl, Aluminium, spaltbarem Material und tausend anderen Dingen, die es braucht, versorgen sollen. In erstaunlichem Gegensatz zu diesem Vorhaben steht nun der Beschluß der Regierung, daß ein Großteil des indischen Bedarfs an Textilien — und dieser Bedarf wird von 1961 an schätzungsweise um 2000 Millionen Yards, also fast zwei Millionen Kilometer, Jahr für Jahr zunehmen — durch die Erzeugnisse von Handwebstühlen, und ausschließlich unter Verwendung von handgesponnenem Garn, gedeckt werden soll. Und dies ungeachtet der Tatsache, daß Indien eine Textilindustrie besitzt, die zu den größten und leistungsfähigsten der Welt gehört.

Dieser fürs erste geradezu reaktionär anmutende Plan geht auf 1920 zurück, auf das Jahr, da Mahatma Gandhi als Teil seiner gewaltlosen Kampagne gegen die britische Herrschaft den Boykott ausländischer Textilien zu propagieren begann. Aber Gandhi verfolgte dabei noch einen anderen Gedanken. Die möglichst weite Verbreitung des Spinnrades und des Handwebstuhles erschien ihm als das beste und zugleich billigste Mittel, um der chronischen Arbeitslosigkeit und Armut in den 500.000 Dörfern Indiens zu steuern. Allerdings war das damals noch gebräuchliche Spinnrad zu primitiv, um die ihm zugedachte Aufgabe zu erfüllen; erst mußte eines entwickelt werden, das quantitativ und qualitativ genug leistete, um seinem „Betriebsführer“ einen wenn auch bescheidenen Lebensunterhalt zu sichern. Und dabei sollte es nicht mehr als 150 Rupien kosten und so einfach in der Konstruktion sein, daß jeder Handwerker im Dorf es bauen und reparieren konnte. Ein von Gandhi 1929 ausgesetzter Preis von 100.000 Rupien, was damals sehr viel Geld war, brachte zahllose Vorschläge und Entwürfe, selbst aus weit entfernten Ländern, wie Japan und der Türkei, aber keinen, der den von Mahatma gestellten Bedingungen entsprochen hätte.

Erst 1949, ein Jahr nach Gandhis Tod, stellte sich ein junger südindischer Bauer mit einem nach neuen Prinzipien und dabei einfach und fast ganz aus Holz konstruierten Modell ein, das so vielversprechend schien, daß eine Gruppe von Technikern beauftragt wurde, in Zusammenarbeit mit dem Erfinder die Behebung der noch bestehenden Mängel zu versuchen. Nach fünf Jahren gemeinsamer Anstrengungen stand dann endlich das Modell der Maschine bereit, die, nach Ekambarnathan, dem bäuerlichen Erfinder, „Ambar Charkha" — das „Ambar-Spinnrad“ — benannt, so ziemlich alle Eigenschaften verkörpert, die Gandhi gefordert hatte. Sie arbeitet nahezu automatisch. Vier Ringspindeln spinnen und spulen den Baumwollfaden, der ihnen durch zwei Paare mit ungleicher Geschwindigkeit rotierender Rollen zugeführt wird, ohne Hilfe der menschlichen Hand. Das Prinzip an sich ist nicht neu; auf ihm beruht seit langem die maschinelle Ausrüstung aller großen Spinnereien. Eine umwälzende Neuerung hingegen ist seine Anwendung bei einem einfachen, handbetriebenen Spinnrad, dessen wesentlichste Bestandteile hölzerne Rollen und Rädchen sind, deren Bewegungen durch baumwollene Treibriemen koordiniert werden; und auch die Geringfügig keit der Herstellungskosten. Sie betragen für die „Ambar Charkha“ bloß 40 Rupien und für die beiden Zusatzgeräte, die notwendig sind, um die zu spinnende Baumwolle zu strähnen, zusammen 60 Rupien. Die Gesamtkosten belaufen sich also auf 100 Rupien (etwa 500 Schilling), ein Betrag, der auch von sehr armen Familien zumindest in Raten aufgebracht werden kann. Und was das Wichtigste ist, die Leistung der „Ambar Charkha“ läßt wenig zu wünschen übrig; je nach dem verlangten Feinheitsgrad des Produkts können stündlich rund 2500 bis 3200 Meter Garn mit dem Apparat hergestellt werden.

Dem von der Allindischen Regierungskommission für dörfliche Industrien erstellten „Ambar- Charkha-Projekt" ist Großzügigkeit nicht abzusprechen. Als erstes werden 10.000 dörfliche Tischler aus allen Teilen des Landes mit der Konstruktion der „Charkha“ vertraut gemacht, um dann so rasch als möglich das Nächstziel zu erreichen — die Erzeugung von zweieinhalb Millionen Exemplaren dieses Spinnrades samt Zusatzgeräten. Des weiteren sollen Hunderte von Zentren errichtet werden, wo die ländliche Bevölkerung in der Handhabung des Apparats, der ja für den Gebrauch einer jeden Familie, so wie etwa die Nähmaschine, gedacht ist, unterrichtet werden soll. Außerdem sind öffentliche Werk statten vorgesehen, wo Leute, die selbst keine „Charkha" besitzen, gegen Lohn am Spinnrad arbeiten können. Natürlich wird die volle Durchführung dieses Projekts den Staatsschatz sehr erheblich belasten. Für Subventionen werden 340 Millionen Rupien und für Darlehen und Vorauszahlungen das Doppelte dieses Betrages aufgebracht werden müssen. Dazu kommen die mit 800 Millionen berechneten Kosten der Stützung, die das „Charkha“-Garn brauchen wird, um preislich mit dem fabrikmäßig erzeugten konkurrieren zu können. Aber dieser große Aufwand erscheint durchaus gerechtfertigt gegenüber den Vorteilen, die von der Forcierung der „Ambar Charkha“ zu erwarten sind.

Vor allem eröffnet sich die Aussicht auf eine fühlbare Verbesserung der Verdienstmöglichkeiten für die ländliche Bevölkerung. Nicht weniger wichtig ist die vorauszusehende Einsparung sowohl von Devisen wie von einheimischem Kapital, zwei Dingen, an denen das heutige Indien empfindlichen Mangel leidet. Zur

Ausstattung all der neuen Fabriken, die erforderlich wären, um Indiens rasch steigenden Bedarf an Textilien zu decken, müßten die Maschinen größtenteils aus dem Ausland bezogen werden; dies und die Fabrikanlagen selbst, die Wohphausbauten für die Arbeiterschaft und die sonstigen damit zusammenhängenden Investitionen würden weit höhere Kosten verursachen als das Spinnradprojekt. Ein weiterer Vorteil, den dieses bietet, kann darin gesehen werden, daß es keine Abwanderung der dörflichen Bevölkerung in neue Industriezentren nach sich ziehen wird und keine besonderen Anforderungen an das Transportsystem stellt.

Natürlich hat das Projekt auch seine Gegner, besonders in den Kreisen der Geschäftsleute und Industriellen. Es sei — heißt es — lächerlich, anzunehmen, daß die geplante Organisation, die eine halbe Million Dörfer erfassen wolle, erfolgreich sein könne; mit der Verwirklichung der „Ambar-Charkha"-Idee werde nichts anderes zu erreichen sein als ein schwerer Mangel an Textilien. Daß es in erster Linie die großen Textilfabrikanten sind, die so reden, ist begreiflich. Ungeachtet dieser Opposition ist die Regierung fest entschlossen, das „Ambar- Charkha“-Projekt, wie Premierminister Nehru deutlich betont hat, „unter äußerster Anspannung unserer Kräfte vorwärtszutreiben“. Allerdings will man nichts überstürzen, sondern schrittweise Vorgehen. Bis Ende des Jahres dürfte die Zahl der in Betrieb stehenden „Ambar Charkhas“ nahezu 300.000 erreicht haben. Damit wird sich die Möglichkeit ergeben, die tatsächliche Leistungsfähigkeit dieser neuen Hausindustrie genauer abzuschätzen und sich über ihre beste Organisationsform schlüssig zu werden. Dann werden auch die notwendigen Erfahrungen vorliegen, um den richtigen Maßstab für die Regulierung der fabrikmäßigen Textilproduktion festzustellen. Gegenwärtig ist es so, daß den Fabriken die Installierung neuer Webstühle oder Spindeln nur dann gestattet, wird, wenn eine Garantie für den Export der zu erzielenden Mehrproduktion vorliegt.

Schon heute ist „Ambar Charkha" für die große Masse der indischen Landbevölkerung zu einer Devise geworden, die immer mehr Anhänger gewinnt. Hält das Projekt, was es verspricht, dann können die Ergebnisse weittragende sein. In Indien, wie in allen noch wenig entwickelten Ländern, die das Ziel einer raschen Industrialisierung verfolgen, werden in der Übergangsperiode manche Probleme in Erscheinung treten, ähnlich denen, die zur Zeit der ersten industriellen Revolution in Europa entstanden sind; so namentlich die plötzlich einsetzende Massenabwanderung der ländlichen Bevölkerung in die neuen Industriezentren, die Auflösung der alten Gesellschaftsordnung und die daraus erwachsenden politischen und sozialen Fragen und anderes mehr.

„Ambar Charkha" und ähnliche Projekte, die geeignet erscheinen, zur Erzeugung bestimmter Konsumgüter dörfliche Hausindustrien zu begründen und zu fördern, können den akuten Charakter jener Probleme wesentlich mildern. Ein Gedanke übrigens, der sicherlich auch in industriell bereits hoch- entwickelten Staaten Beachtung verdient.

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