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Eine „Flotte unter Dampf“

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„THE FINEST PARLIAMENTARY CLUB.“ In der Stimme von Sir Geof-frey de Freitas, der eben dabei ist, seine Philosophie vom Wesen und von der Funktion des Europarates zu entwickeln, schwangt ein wenig Stolz mit. Stolz darauf, einer solch auserlesenen Schar zu präsidieren. Und wenn der ehemalige Privatsekretär Attlees von seinem Präsidentenstuhl hinunter blickt, bietet sich ihm ein Bild, das das Herz eines jeden Mannes, der durch die Hohe Schule von Westminster gegangen ist, höher schlagen läßt. Da sitzen im Halbkreis 150 Abgeordnete aus heute bereits 18 europäischen Ländern. Nicht Fraktionszugehörigkeit oder die Nationalität haben ihnen ihren Platz zugewiesen. Allein das Alphabet entscheidet. Da sitzt der deutsche Sozialist neben dem türkischen Konservativen, ein französischer Gaullist mag folgen, an den sich wieder ein dänischer Liberaler reiht, der einen italienischen Monarchisten zum Nachbarn hat. Die Pallette der politischen Vielfalt Europas ]:-<*t vor Präsident de Freitas. Und doch fühlen sich alle Parlamentarier, die dreimal im Jahr zu den Sitzungen des Europarates nach Straßburg kommen, als Mitglieder eines einzigen parlamentarischen Klubs. In dem Haus des Europarates in der Rue Robertsau reflektieren sie nicht nur ihre „häuslichen“ Probleme, treten sie nicht allein als Fürsprecher der Sorgen, die sie in den Heimatländern beschäftigen, auf, sie nehmen auch etwas wieder mit von jener übernationalen Straßburger Atmosphäre in den Alltag ihrer Parlamente. Es handelt sich dabei nicht nur um persönliche Gefühle und emotionale Stimmungen. Es gibt ein Komitee des Europarates mit einem komplizierten Namen — man verzeihe dem Besucher, daß er ihn vergessen hat —, nicht vergessen aber hat er die Aufgabe dieses Kollegiums: nämlich darüber zu wachen und ständig zu drängen, daß die in Straßburg erarbeiteten Empfehlun-

gen von nationalen Parlamenten aufgegriffen werden. 3600 Anfragen in Bonn und in Rom, in Wien genauso wie in Kopenhagen oder London, kann dieses Komitee heute bereits auf sein Erfolgskonto buchen.

WAS GAB DER FRÜHJAHRS-TAGUNG des Europarates in diesem Jahr besondere Akzente? Die leergebliebenen Sitze der griechischen Delegierten waren für die in Straßburg versammelten Parlamentarier aller politisdhien Couleurs eine nicht zu übersehende Mahnung, daß hier ein energisches Wort des Protestes an jene, die die Demokratie im Lande ihrer Wiege suspendiert haitten, gesprochen werden müßte. Auch fand das in vergangenen Jahren begonnene „Transatlantische Gespräch“ seine Fortsetzung. Freilich war das Thema „Europäische und amerikanische Methoden der Entwicklungshilfe“ dazu angetan, keine großen Emotionen freizusetzen. Es war dies eine Lehre aus der ersten Begegnung, bei der einige US-Parlamentarier es sich nicht versagt hatten, einige Spitzen gegen die Person des französischen Präsidenten und seine Politik zu richten. Die Reaktion aus Paris ließ an Deutlichkeit ebenfalls nichts zu wünschen übrig. Sie stellte für den Fall einer Wiederholung die Verweigerung der Einreisevisen für die Amerikaner nach Straßburg in Aussicht.

WAS WÄRE EINE VOLLVERSAMMLUNG DES EUROPARATES ohne ihre politische Generaldebatte.In ihr haben die Delegierten Gelegenheit — oft im Einvernehmen mit ihren Regierungen —, außenpolitische Themen vor dieses Forum zu tragen und ihnen so eine internationale Resonanz zu eröffnen. In diesem Sinn dürfen die erfreulich „neutralitätsbewußten“ Ausführungen des österreichischen Abgeordneten Römer (ÖVP) erwähnt werden, der mit einer Deutlichkeit, wie sie im Inland selten laut wird, die Grenzen aufzeigte, die dem neutralen Österreich bei der Teilnahme an einer politischen Integration gesetzt sind — was aber nichts mit der positiven Beurteilung der Bemühungen der anderen Staaten zu tun hat. Von den zahlreichen Wortmeldungen verdient ein Beitrag des deutschen Abgeordneten Blachstein (SPD) Notiz. Blach-stein, der sich vor einem Jahr als Prophet erwies, als er die Nichtigkeit des Münchner Abkommens postulierte, ließ diesmal in seinem Referat, in dem er die Ostpolitik des Kabinetts Kiesinger-Brandt erläuterte, deutlich werden, daß ein feierlicher Gewaltverzicht auch gegenüber Ostdeutschland heute bereits zum Vokabular der politischen Diskussion gehöre, womit dem durch verschiedene Zweideutigkeiten und Bonner Ungeschicklichkeiten erleichterte Vorwurf des „deutschen Revanchismus“ bestimmt ein guter Teil an Boden entzogen werden könnte.

DAS WORT „ENTSPANNUNG“ wird überhaupt gegenwärtig in Straßburg groß geschrieben. Auch igelt sich der Europarat längst nicht mehr selbstgenügsam ein, sondern nimmt Blickpunkt auf das „größere“ Europa. So machte auch Generalsekretär Smithers erst vor wenigen Wochen eine Reise nach Warschau. Wenn diese erste offizielle Reise eines Repräsentanten des Buroparates in einem europäischen Oststaat natürlich nicht mehr als ein erster Son-dierunigsversuch sein konnte, so demonstrierte sie jedoch deutlich, daß man in Straßburg keineswegs in Selbstgenügsamkeit zu verharren bereit ist.

UND DOCH IST DIE ASSEMBLEE GENERALE mit ihren Debatten und vielleicht noch wichtigeren Couloirgesprächen nur mit der Spitze eines Eisberges zu vergleichen. In die Tiefe und Breiten wirken die so wenig spektakulären, aber dafür um so nachhaltigeren Arbeiten der Experten. Ob auf dem Gebiet der Kultur, des Rechtes oder sozialer Belange: überall webt ein Expertenteam still, aber beharrlich an europäischen Synthesen der einzelnen nationalen Traditionen. Hier werden Vorschläge erarbeitet und an die einzelnen Parlamente herangetragen. Dort fällt freilich das letzte Wort.

„WE ARE A FLEET IN BEING.“ Als eine Flotte, die gleichsam unter Dampf steht, jederzeit einsatzbereit. So charakterisierte Präsident de Freitas die Situation des Europarates in einer Zeit, in der die hochfliegenden europäischen Erwartungen der Gründungs jähre gedämpft sind, in der der Alltag in dem Haus in der Allee Robertsau sein Recht verlangt. Aber auch hier klang in seinen Worten ein wenig Stolz. Diesmal freilich gemischt mit einem Schuß Resignation. Denn was gibt es traurigeres als eine stolze Flotte, deren Matrosen vergebens auf das Kommando „Alle Kraft voraus“ warten?

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