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Eine Nation auf der Suche nach der Identität

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Mit dem Salat fängt es an. Essen oder stehen lassen? In der Stu-. dentengruppe aus Österreich gehen die Meinungen auseinander. Schließlich weiß ein jeder, daß im vergangenen Sommer in Charkow die Cholera geherrscht hat. Also geht der Rübensalat wieder unberührt zurück. Auch im städtischen Krankenhaus ist die ominöse Krankheit präsent: auf einem Plakat, das die Revölkerung zu Vorsicht mahnt. Trotzdem versucht die Chefärztin zu beruhigen: „Es hat in Charkow überhaupt keine Fälle von Cholera gegeben. Nur hundert Kilometer südlicher sind am Land einige Leute erkrankt."

Ein Abwassertechniker aus Berlin, der sich mit der Renovierung der Kanäle beschäftigt, kann dies nur bestätigen: „Es sind vor allem die russischen Medien gewesen, die die Nachricht von einer Choleraepidemie in Charkow verbreitet haben." Wahr ist jedoch, daß die Wasserversorgung sich in einem erbärmlichen Zustand befindet. Gerade in der heißesten Sommerzeit mußte die Zweimillionenstadt einige Tage lang ohne Trinkwasser auskommen. „Pro Kopf wird nicht mehr als vier Pfennig für Wasserversorgung ausgegeben. Da braucht man sich nicht zu wundern, daß solche Sachen passieren."

Geldmangel, Horrorgeschichten und Informationen, die von Moskau aus bestimmt werden: eine Situation, die symptomatisch scheint für die Ukraine im Jahre 1996. „Wenn die Ieute sich genauer informieren wollen, kaufen sie russische Zeitungen wie ,Argumenti i Fakti' oder die ,Izwe-stija'", meint auch Aleksandr Zolotko, der stellvertretende Chefredakteur der Wochenzeitung „Tele Nedelija" (Te-lewoche).

Trotzdem ist gerade „Tele Nedelija" eine der wenigen Erfolgsgeschichten der ukrainischen Medienlandschaft. Innerhalb von eineinhalb Jahren ist die Auflage auf 140.000 geklettert. Showbusiness, Lokales, Leichtes -„Der Mond und Sex" - und natürlich ein ausführliches Fernsehprogramm sind die einfache Erfolgsformel. Was von weit kommt, verkauft sich gut. Während Madonna die Titelseite schmückt, sind amerikanische und mexikanische Seifenopern die Renner auf der Glotze.

Bezüglich der Identitätssuche seines Vaterlandes ist Zolotko skeptisch. „Die Ukraine besteht aus mehreren Teilen, die jahrhundertelang getrennt waren. Der ukrainische Nationalismus ist überwiegend eine Angelegenheit des Westteils. Der Wahlsieg von Leonid Kutschma bei den Präsidentschaftswahlen von 1994 war dagegen eine Art Rache des Ostens."

Lemberg ist Westen. Während das Stadtbild geprägt ist von der österreichisch-ungarischen Vergangenheit, dominiert im täglichen Leben die ukrainische Sprache. Charkow dagegen ist Kleinrußland. An die 90 Prozent haben Russisch als Muttersprache. Da mit dem Ende des sowjetischen Imperiums wichtiges Hinterland weggefallen ist, ist die Unabhängigkeit nirgendwo so unpopulär wie hier. „Ich kenne niemanden, der wirklich begeistert war, aber Politik interessiert die Leute sowieso kaum", meint eine Mathematikstudentin.

Wie die Zukunft der Ukraine ausschaut, wird ohne Zweifel zu einem großen Teil vom Verhältnis zum großen Nachbarland abhängen. Seit der Konflikt um die Krim und die dortigen Marinestützpunkte größtenteils beigelegt ist, hat sich dieses merkbar verbessert. „Die wirtschaftlichen Beziehungen zu den ehemaligen Sowjetrepubliken, insbesondere auf dem Gebiet der Energieversorgung, sind essentiell für uns", meint Anatoli Kinach, der stellvertretende Ministerpräsident. Auch im außenpolitischen

Bereich steht Kinach auf einer Linie mit Moskau. „Selbstverständlich" sei die ukrainische Regierung gegen eine Erweiterung der NATO um die mitteleuropäischen Staaten. Für das Unabhängigkeitsstreben der Tschetschenen kann er kaum Sympathie aufbringen. „Wir erkennen, daß jedes Volk das Recht auf Selbstbestimmung hat, aber dies sollte innerhalb eines zivilisierten und konstitutionellen Rahmens realisiert werden." Innerhalb Rußlands also. Die größten Aufgaben seines Landes sieht Kinach jedoch im Wirtschaftsbereich. Eines der Hauptprobleme bleibt weiterhin die Umstellung der Rüstungsindustrie auf friedliche Zwecke. Schätzungsweise 70 Prozent der Industrie hängen direkt oder indirekt mit dem Militär zusammen. Um der industriellen Erneuerung einen Schub zu geben, hatte die UNIDO vom 11. bis 13. März ein internationales Investment Forum für die Ukraine zusammengerufen. Mit einem gewissen Erfolg, denn von 88 Investoren aus dem Westen haben 15 Verhandlungen angefangen und sind 50 noch im Gespräch mit ihren möglichen ukrainischen Partnern.

Auch in anderer Hinsicht gibt es Gründe für einen bescheidenen Optimismus. Nach Jahren des Schrumpfens wird für dieses Jahr erstmals ein bescheidenes Wachstum erwartet.

Der Autor

ist freier Mitarbeiter der Furche.

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