"Eine neue Identität für Friedenszeiten schaffen"

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Nach jahrelangem Bürgerkrieg wurden 1992 in El Salvador Friedensverträge unterzeichnet. Es fanden Wahlen statt, aber die eigentliche Befriedung steht noch aus. Ein Gespräch über die Lage des Landes mit dem im Wiederaufbau engagierten Rutilio Sanchez.

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Nach jahrelangem Bürgerkrieg wurden 1992 in El Salvador Friedensverträge unterzeichnet. Es fanden Wahlen statt, aber die eigentliche Befriedung steht noch aus. Ein Gespräch über die Lage des Landes mit dem im Wiederaufbau engagierten Rutilio Sanchez.

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dieFurche: Auf den ersten Blick gewinnt man den Eindruck, daß sich El Salvador seit dem Krieg demokratisiert hat: Es gibt regelmäßig Wahlen, die Opposition ist stark, die Presse wird nicht zensuriert und die groben Verletzungen der Menschenrechte gehören auch der Vergangenheit an.

Rutilio Sa'nchez: Das ist alles sehr schön für den Export. Aber drinnen sieht es anders aus. Sozialprojekte kennt die Regierung nur in Vorwahlzeiten. Und was die Menschenrechte betrifft, so haben die Salvadorianer eher die Rechte, die der Tierschutzverein für Rinder oder Schweine in der Massentierhaltung einfordert: Sie sollen nicht malträtiert oder sinnlos getötet werden. Das ist gegen früher ein Fortschritt. Aber Würde oder die kulturellen Werte werden nicht gefördert. Das Erhabene wird uns vorenthalten. Wo bleibt die Demokratie? Deswegen behaupte ich, daß die Wahlen ein Schwindel sind. Kein Wunder, daß 60 Prozent der Wahlberechtigten nicht zu den Urnen gehen.

Was die Opposition betrifft, so ist sie zwar groß aber nicht konsolidiert. Es gibt Parteien, wie die Christdemokratische, die keine Opposition machen, sondern ihre Stimmen an die regierende, rechtsgerichtete ARENA verkaufen. Die Nationale Versöhnungspartei ist die Partei des ehemaligen Militärregimes der siebziger Jahre. Die haben überhaupt keine Ideologie. Und die FMLN hat ihre Mobilisierungsfähigkeit verloren. Ihre traditionelle Basis, die Gewerkschaften und Bauernorganisationen, die Studentenvereinigungen, sind zerschlagen.

dieFurche: Trotzdem machte sich die Opposition große Hoffnungen, die Präsidentschaftswahlen im März zu gewinnen. Was ist schief gelaufen?

Sa'nchez: Das Problem ist, daß die Politik sehr stark personalisiert wird. Mit dem falschen Kandidaten kann man auch die richtige Politik nicht glaubwürdig vertreten. Die ehemalige Menschenrechtsombudsfrau Victoria de Aviles, die keiner Partei angehört und landesweit großes Ansehen genießt, fiel leider bei den Vorwahlen durch. Das lag nicht zuletzt am komplizierten Wahlmechanismus. Facundo Guardado, der dann seine Kandidatur einbrachte, ist nicht nur als ehemaliger Guerillakommandant für viele nicht wählbar, er vertritt auch eine Linie der Anbiederung an die Oligarchie, die von der Basis nicht goutiert wird. Das Wahlergebnis ist also eher als Strafvotum gegen die FMLN und weniger als breite Zustimmung zum heutigen Präsidenten Francisco Flores von der rechten ARENA zu sehen.

dieFurche: Geht es bei Eurer Arbeit in erster Linie um die Integration der demobilisierten Guerilleros oder um Gemeindeentwicklung?

Sa'nchez: Nach dem Krieg waren alle total demobilisiert - in jeder Hinsicht. Die Leute lebten nicht mehr in ihren Heimatdörfern, viele fanden ihre Familien nicht, alles lag in Trümmern. Sogar die Oberschicht hatte ihre Probleme: Die Industriellen mußten ihre Fabriken wiederbeleben, viele hatten ihre Betriebe schließen müssen. Was meine Arbeit als Priester betraf, so fand ich gemeinsam mit einigen politischen Führern meine Aufgabe im Dienste der Basis. Wir begannen mit einigen sehr einfachen Programmen wie Beistand bei der Wiedererlangung eines Identitätsnachweises oder beim Auffinden von Angehörigen. Dazu ein paar Orientierungskurse für Leute, die sich im Frieden nicht zurechtfanden. Viele ehemalige Kämpfer wußten nichts mit sich anzufangen und mußten motiviert werden, für sich neue Perspektiven zu suchen. Damit begannen wir 1992, unmittelbar nach der Unterzeichnung der Friedensverträge. Gleichzeitig organisierten wir Kurse über Solarenergie, Umweltschutz, Menschenrechte und praktische religiöse Studien sowie Selbstverwaltung und Produktion im Kollektiv. Die solaren Trockenanlagen ermöglichen es den Bauern, die keine Kühlmöglichkeiten haben, Tomaten und andere Lebensmittel zu konservieren.

dieFurche: Wie steht es um die Bereitschaft einer Bevölkerung, die so viel verloren hat, sich mit dem Gegner auszusöhnen?

Sa'nchez: Wir glauben, daß die Nachkriegsproblematik nicht nur ideologischer Natur ist, sondern auch materielle Ursachen hat. Auf der einen Seite versuchen wir den Menschen bei der Identitätsfindung zu helfen. Aus einem befriedigenden Verhältnis zur eigenen Identität muß der Friede wachsen. Auf der anderen Seite vermitteln wir Ausbildung zur Selbstverwaltung und Organisation. Diese Arbeit ruht auf drei Säulen: Erziehung zum eigenständigen Denken; Bewußtseinsbildung, aus der Verantwortung und Selbstwert entstehen; und drittens, als logische Fortsetzung: Organisation.

Wir sagen: Man kann mit einem Weidenkorb kein Wasser schöpfen. Wenn die Leute nicht organisiert sind, ist die Arbeit verloren. Wenn sie organisiert sind, hat das Erworbene Bestand. Wichtig ist, daß eine neue Identität für die Friedenszeit entsteht und die Selbstverwaltungsmechanismen dazu beitragen, daß die Gemeinschaft ihre Probleme selbst lösen kann.

dieFurche: Trägt die Bewußtseinsbildung, wie Ihr sie betreibt, nicht zu neuen sozialen Auseinandersetzungen bei?

Sa'nchez: Es ist ja nicht so, daß wir die Armen zur Auseinandersetzung mit der Oligarchie motivieren. Vielmehr betreibt die Oligarchie ein Programm gegen die Armen. Die Beschäftigungspolitik, die Erziehungsprogramme, die systematische finanzielle Austrocknung der Gemeinden sind eine Provokation. Durch unsere Bewußtseinsarbeit erkennen die Armen, wie sie unterdrückt werden. Wir zeigen nur Zusammenhänge auf. Fordern, was ihnen zusteht, ist keine Konfrontation. Das Problem ist die Umerziehung der Oligarchie. Das müßten Institutionen auf höchster Ebene übernehmen, vielleicht internationale Organisationen. Es ist erstaunlich, daß wir uns den Vorwurf anhören müssen, daß wir das Volk aufwiegeln.

dieFurche: Was hat die Arbeit gebracht? Das Land ist noch immer gespalten ...

Sa'nchez: Es gibt überall Arme und Reiche. Demokratie ist, wenn die Gesellschaftsschichten miteinander auskommen und einander bei der Produktion und der Verteilung nicht ausschließen. In El Salvador aber ist die Trennung nach dem Krieg noch genauso scharf wie vorher. Wenige Reiche kontrollieren die Produktion und sind bei der Verteilung nicht flexibel. Daß ARENA neuerlich gewählt wurde, hat verschiedene Ursachen. Auf der einen Seite ist sie bei der Propaganda wenig zimperlich. Einem Verhungernden einen Teller Essen anzubieten, ist eine Beleidigung. Er selber sieht das nicht so, weil er Hunger hat. Dafür verkauft er seine Seele und seine Stimme. In den Fabriken verhindert die Regierung die Aufklärung über Arbeitsrecht und die Bildung von Gewerkschaften. Auch die Bauern, die Lehrer und andere Gesellschaftsgruppen, in denen die Linke stark war, sind kaum mehr organisiert. Dadurch ist es immer schwieriger, die Basis zu beeinflussen.

dieFurche: Seit zwei Jahren regiert die FMLN die wichtigsten Städte. Hat sie da ein alternatives Projekt vorexerzieren können?

Sa'nchez: Nach einem Krieg erholt sich der Stärkere schneller als der Schwache. Die Kräfte der FMLN waren stärker erschöpft, als die der Oligarchie. Außerdem hatte FMLN keine Erfahrung mit Wahlen und Parlamentarismus. Dennoch gewann sie 1997 in der Hauptstadt und den wichtigsten Provinzstädten. Auf kommunaler Ebene regiert sie daher mehr Menschen als die anderen Parteien. Aber unser System ist hochgradig zentralistisch. Die Gemeinden sind vom Innenministerium abhängig, das die Mittel für lokale Entwicklung gezielt blockiert. Die sichtbaren Fortschritte sind daher gering. Was die Menschen aber mehr enttäuscht, ist die mangelnde Einheit der Partei. Das zeigte sich bei den Wahlen vom vergangenen März. Der Parteikongreß hatte im letzten Moment mit Facundo Guardado einen Kandidaten aufgestellt, der nicht geeignet war. Ihm hätten die wenigsten zugetraut, das Land auf einen neuen Kurs zu bringen. Aber es ist nicht so, daß das Volk vor einem Regierungswechsel Angst hat. Es will den Fluß überqueren, wartet aber lieber die nächste Fähre ab.

dieFurche: Die Wirtschaft, die in den Gemeinden gefördert wird, erscheint von der Volkswirtschaft weitgehend abgekoppelt, eine Art kollektiver Subsistenz.

Sa'nchez: Wir können uns nicht ganz abkoppeln, aber wir haben den Blickwinkel der Basis. In diesem Sinn betreiben wir eine Art Subsistenzwirtschaft. Nicht unbedingt kollektiv, sondern auch individuell oder auf Ebene der Familie. Wenn man für den Markt produziert oder irgendwo für Lohn arbeitet, gehen die wenigen Früchte der Arbeit in einen großen Trichter, aus dem unten wenig herauskommt. El Salvador ist ein unterentwickeltes Agrarland ohne Sozialprogramm. Daher müssen wir uns von der Makroökonomie abkoppeln.

Das Gespräch führte Ralf Leonhard.

Zur Person Befreiungstheologe und Volkserzieher Als Direktor der salvadorianischen Caritas und Vertrauter von Erzbischof Oscar Arnulfo Romero mußte Rutilio Sanchez nach dessen Ermordung im März 1980 ins Exil gehen. Später kehrte er heimlich zurück. Seine Pfarre hatte keine definierten Grenzen, denn er wirkte in den von der linken Befreiungsfront Farabundo Marti (FMLN) kontrollierten Gebieten. Selbst nach dem Friedensabkommen vom Jänner 1992 hielt es Erzbischof Rivera y Damas aus Sicherheitsgründen für verfrüht, dem Priester eine Pfarre anzubieten. Also suchte sich Sanchez ein neues Aufgabengebiet. Das von ihm gegründete "Serviceteam für Basisgemeinden" ist in 56 Gemeinden tätig.

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