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Eine neutrale Zone in Europa?

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Die erklärte Absicht der britischen Regierung, den Personalstand der vier auf dem europäischen Kontinent stationierten britischen NATO-Divi- sionen um etwa 40 Prozent herabzusetzen und auch eine größere Zahl der dort liegenden Luftgeschwader nach England zurückzuberufen, hat bei den Mitgliedern der NATO und namentlich in den Staatskanzleien der Westeuropäischen Union eine peinliche Ueberraschung ausgelöst. Die erste Reaktion der öffentlichen Meinung war vielfach scharf ablehnend, wobei in manchen Kommentaren die Befürchtung zum Ausdruck kam, daß die geplante Maßnahme der Regierung MacMillan nicht nur an sich schon eine empfindliche Schwächung der westlichen Defensivkraft bedeute, sondern ein weiterer Schritt auf einem Wege sei, der zur gänzlichen Auflösung des auf dem Nordatlantikpakt beruhenden Verteidigungssystems führen könne. Denn angesichts des britischen Beispiels werde es für die Regierung in Washington sehr schwierig werden, dem Druck jenes Teiles der amerikanischen Oeffentlichkeit Widerstand zu leisten, der mit wachsender Ungeduld die Heimkehr „unserer Jungen" aus den europäischen Garnisonen fordert. Damit sei die Gefahr gegeben, daß die Hauptlast der unmittelbaren Verteidigung des Westens von der Deutschen Bundesrepublik übernommen werden müßte, lang, ehe deren erst in Aufstellung begriffene Wehrmacht der Aufgabe gewachsen sein könnte, die durch die Verminderung oder gar den völligen Abzug der anglo-amerikani- schen NATO-Truppen entstandene Lücke zu schließen; eine Situation, die, ganz abgesehen von rein militärischen Erwägungen, auch auf den weiteren politischen Kurs der iibrisen NATO-Staaten kaum ohne Einfluß bleiben würde.

Wie immer man sich zu Meinungen oder Be' sor'gnissėn solcher Art stellen will, die Tatsache, daß die Stärke des britischen NATO- Kontingents zur Zeit im Mittelpunkt einer sehr lebhaften Diskussion steht, verleiht einem Aufsatz, der unter dem Titel „Eine neutrale Zone in Europa?“ am 26. Jänner, also noch vor jener Ankündigung der britischen Regierung, in der angesehenen englischen Wochenschrift „The Tablet“ erschienen ist, eine unabstreitbare Aktualität. Der Autor dieses Artikels, Captain Eugene Hinterhoff, untersucht zunächst die Frage, inwieweit der ursprüngliche Plan der westeuropäischen Verteidigung im Hinblick auf den gegenwärtigen Stand der Entwicklung thermonuklearer Waffen noch als zweckentsprechend bezeichnet werden kann, und kommt dabei zu dem zweifellos richtigen Schluß, daß das strategische Konzept, welches dem Aufbau und der Verteilung der NATO-Streitkräfte zugrunde lag, heute weitgehend überholt ist. Vor acht Jahren, als der Nordatlantikpakt unterzeichnet wurde, hatten die Amerikaner hinsichtlich der Herstellung der A-Bombe einen Vorsprung, den die UdSSR, wenn überhaupt, so doch jedenfalls für absehbare Zeit, wie man glaubte, nicht würde wettmachen können. Damals erschien es sinnvoll, anglo-amerikanische Heereskörper auf dem europäischen Festland zu belassen, um im Verein mit den Truppen der kontinentalen NATO- Verbündeten den Schutz der amerikanischen Flugstützpunkte, im Falle eines sowjetischen Angriffs, so lange zu gewährleisten, bis A-Bom- ben-bewehrte Luftgeschwader durch Zerstörung des sowjetischen Kriegspotentials die sowjetischen Armeen zur Einstellung ihrer Operationen und zum Rückzug gezwungen haben würden. Heute ist die Lage eine ganz andere. Zur größten Ueberraschung aller westlichen Experten hat die UdSSR ihre „atomare Rückständigkeit“ bereits gänzlich überwunden, und es gibt heute kein Ziel mehr in den Vereinigten Staaten selbst, welches außerhalb der Reichweite sowjetischer, mit Ueberschallgeschwindigkeit fliegender

H-Bomben-Träger und vielleicht auch ferngelenkter Raketengeschosse läge. Angesichts dessen und der wiederholt ergangenen Warnung, daß eine sowjetische Aggression in Europa sofortige und massive Vergeltungsaktionen mit thermonuklearen Kampfmitteln nach sich ziehen würde, hält Hinterhoff die Möglichkeit eines sowjetischen Vorstoßes auf unserem Kontinent nur noch für sehr gering. Wenn diese Voraussetzung zutrifft und die Verteidigungslinie des freien Europa sozusagen jenseits des nördlichen Polarkreises verlegt ist, könnte es wohl sein, d?ß Hinterhoff recht hat, wenn er meint, daß trotz des damit verbundenen „kalkulierten Risikos“ ein Abzug der Amerikaner aus Europa — mit Ausnahme allerdings einzelner Stützpunkte, etwa in Spanien — bei gleichzeitiger Zurücknahme der sowjetischen Truppen aus den Satellitenstaaten, beiden Teilen militärische und politische Vorteile bringen würde, die ihnen eine solche Neuorientierung wünschenswert machen sollte. Aber freilich käme es auf die Bedingun gen an, die an die Evakuierung geknüpft würden.

Captain Hinterhoff faßt da drei Alternativen ins Auge. Die erste, der Rückzug der amerikanischen und der sowjetischen Truppen in das eigene Land, ohne weitere politische Abmachungen, würde, so denkt er, die Dinge so gut wie unverändert lassen; Deutschland bliebe nach wie vor geteilt und die Bundesrepublik weiterhin Mitglied der NATO, mit fremden, nichtamerikanischen NATO-Kontingenten auf ihrem Territorium, indes die UdSSR „vermutlich" Vorkehrungen treffen würde, um die nun nicht mehr militärisch okkupierten Oststaaten am Ausbrechen aus der sowjetischen Einflußsphäre zu verhindern. Ueber die Chancen, daß die UdSSR sich zu einem solchen Handel bereitfinden könnte, wird in dem Aufsatz nichts gesagt. Sehr hoch dürften sie kaum zu bewerten sein, was Hinterhoff bezüglich der zweiten, ihm vorschwebenden Möglichkeit übrigens selbst zugibt. Diese wohl kaum mehr als theoretische Proposition bestünde nach ihm in der Schaffung einer von der Ostsee bis an die jugoslawische Grenze reichenden, von sämtlichen NATO- beziehungsweise sowjetischen Streitkräften ge- reumten neutralen Zone, das wiedervereinigte Deutschland innerhalb seiner gegenwärtigen Grenzen, ferner Polen, Rumänien, Ungarn und die Tschechoslowakei umfassend. Im Besitz ihrer vollen Souveränität und daher auch des Rechtes, sich zum Schutz ihrer Neutralität zu bewaffnen, „würde dieser Plan für die Länder Osteuropas", so schreibt Hinterhoff, „die Erfüllung ihrer sehnsüchtigsten Träume bedeuten — die Wiedergewinnung ihrer vollen Freiheit und Unabhängigkeit. Angesichts der scharfen sowjetischen Reaktion auf Nagys Bemühungen, sein Land zu neutralisieren, erscheint es allerdings zweifelhaft, ob die Russen eirter solchen Lösung zustimmen würden .. .“. i

Die beste Aussicht auf Verwirklichung spricht der Verfasser jenes Aufsatzes einer dritten Alternative zu; einem Konzept, von dem er sagt, daß es in Europa sowohl wie in Amerika eine wachsende Unterstützung findet. Hier würde es sich darum handeln, die Staaten der genannten Zone, die von jeder Bindung an den Nordatlantik- beziehungsweise den Warschauer Pakt zu lösen wären, nicht nur zu neutralisieren, sondern zu demilitarisieren. Ihre gänzliche Entwaffnung oder zumindest die Beschränkung ihrer militärischen Stärke auf ein Minimum, wäre unter Aufsicht der Vereinten Nationen vorzunehmen und durch UNO-Inspektions-

gruppen, für deren Kosten die zu überwachenden Staaten aufzukommen hätten, unter dauernder Kontrolle zu halten. Ein europäischer

Kollektivpakt, an dem sich als führende

Signatare die USA und die UdSSR zu beteiligen hätten, würde die Sicherheit und die territoriale Integrität sämtlicher Staaten der demilitarisierten Zone garantieren . . .

Es ist allerdings nicht unwahrscheinlich, daß Moskau, namentlich auch mit Rücksicht auf die jüngst in Ungarn gemachten Erfahrungen, für die hier skizzierte Lösung, und damit auch für die Wiedervereinigung Deutschlands, zu haben wäre; und es mag auch die Ansicht zutreffend sein, daß mit der Errichtung eines solchen „Cordon sanitaire“, einer „Pufferzone“, wenn man will, zunächst eine Entschärfung der westöstlichen Spannungen und eine Beruhigung der internationalen Lage eintreten würden. Ist es aber denkbar — eine Frage, die Hinterhoff ganz übergeht —, daß ein wiedervereinigtes Deutschland als die viert- oder drittstärkste Industriemacht der Welt, mit 70 Millionen Bewohnern, und die weiteren 80 Millionen der übrigen hier in Betracht kommenden Völker, deren Nationalbewußtsein mit der Befreiung vom russischen Druck sicherlich einen neuen Auftrieb gewinnen, wird, gewillt sein könnten, sich neuerlich auf unabsehbare Zeit einer fremden Kontrolle zu unterwerfen und che Sorge .für den Schute ih t? Grenzen einer internariaoalen . Körpewchaft . zu überlassen, deren bestimmungsgemäßes Wirken von einer reibungslosen amerikanisch-sowjiti- schen Zusammenarbeit abhängen würde? Und gesetzt stlbst den Fall des Einverständnisses jenes „Schützlingskollektivs“, wäre es nicht zu befürchten, daß sich der gedachte Cordon sanitaire sehr bald zu einem neuen Spannungszentrum, einem Gefahrenherd erster Ordnung entwickeln würde?

„Nie hat es eine günstigere Gelegenheit gegeben“, so erklärt Captain Hinterhoff am Schluß seiner Betrachtungen, „um eine Tat schöpferischer, kühner und phantasievoller Staatskunst zu setzen. Diese Gelegenheit ungenützt vorübergehen zu lassen, wäre ein geradezu monumentaler Fehler.“ Damit hat der englische Kritiker gewiß vollkommen recht. Es ist hoch an der Zeit, daß die führenden Staatsmänner des Westens sich auf neue Wege besinnen, um den Zusammenschluß der beiden widernatürlich getrennten Teile Deutschlands zu erreichen und das Problem der Oststaaten, welches offenbar auch für die Herrn der Sowjetunion eine Quelle wachsender Besoreni? bildet, einer Lösung zuzuführen, die den Fundamentalsätzen des Rechtes und der Gerechtigkeit entspricht.

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