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Eine Säule Europas wankt bedenklich

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Geschlossene Grenzen als Folge einer falschen Algerien-Politik: Wie geht Frankreichs Regierung mit dem Terror um, was wollen die Franzosen?

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Geschlossene Grenzen als Folge einer falschen Algerien-Politik: Wie geht Frankreichs Regierung mit dem Terror um, was wollen die Franzosen?

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Das geplante Treffen von Frankreichs Staatspräsident Jacques Chirac mit dem algerischen Präsidenten Zeroual in New York hat nicht stattgefunden. Eine diplomatische Katastrophe. Seit jeher ist die Algerien-Politik Frankreichs eine komplexe Angelegenheit - und eine blutige manchmal. Vor kurzem erfuhren Journalisten hierzulande, (faß Chirac Ende August einen Brief der GIA, der „bewaffneten islamischen Gruppe” Algeriens, mit der Aufforderung bekommen hatte, sich doch zum Islam zu bekehren. Das war sicherlich nicht ernst zu nehmen. Aber warum kam die Sache erst zwei Monate später an die Öffentlichkeit?

Leider haben inzwischen terroristische Attentate Frankreich mit Wucht getroffen, und man weiß, woher sie kommen: von der GIA. Die Reaktion von

Innenminister Debre ist einfach: Belagerungszustand im Lande. Es herrscht Krieg. Logische Folge ist das Sperren der Grenzen. „Schengen” (offene Grenzen innerhalb der EU, Absicherung gegen außen) ist vorläufig gestoppt. Niemand weiß, bis wann. Aber hat diese Sperrung wirklich mit dem Terrorismus zu tun oder ist sie eine Strategie, um die sicherheitspolitischen Erwartungen eines Teils der Wähler zu befriedigen? Man weiß, die Franzosen haben mit knapper Mehrheit für Maastricht gestimmt Offene Grenzen bedeuten für manche hauptsächlich Drogenhandel und gesteigerte Kriminalität.

Aber soll denn, trotz allem, Frankreich nicht eine Säule Europas, gemeinsam mit Deutschland, darstellen? Bundeskanzler Helmut Kohl ist in der Terroraffäre bisher diskret geblieben. Wie lange wird er es sich noch leisten können? Diesen Mittwoch, 25. Oktober, kam es in Bonn zu einer Begegnung zwischen Chirac und Kohl. Über welches Europa werden sie gesprochen haben? Über das Europa Ex-Jugoslawiens, das Europa von Schengen mit offenen Grenzen, das vereinte wirtschaftliche Europa oder über das politische Europa der Zukunft?

Es scheint, daß die neuen Länder des Europa der 15 ein Jahr vor der „Konferenz der Regierungen über die Reform der europäischen Institutionen” irgendwie im Nebel bleiben, wie zum Beispiel Österreich. Was hat es mit seinem Beitritt zur NATO auf sich? fragt man hierzulande. Und warum sollte ein eben neu bei der EU eingetroffenes Land Schengen ernst nehmen, wenn Frankreich es nicht redlich tut? Beide Länder stehen un rcr der Bedrohung des Terrors: hier islamisch, dort rechtsextrem. In Österreich Briefe, in Frankreich Gasflaschen. Die französische Bevölkerung reagiert tapfer gegen die Attentate, aber sie hat das unangenehme Gefühl, daß ihre Regierung so gut wie gar keine Glaubwürdigkeit mehr besitzt - auch im Ausland nicht.

Selbstverständlich haben die Terroristen der GIA unserem Land den Krieg erklärt. Aber warum unterstützen wir seit etlichen Jahren eine Regierung in Algerien, von der jeder weiß, daß sie nur aus Korruption besteht?

Der 1992 gestoppte demokratische Prozeß in Algerien hat die Islamisten zum Terror aufgerufen. Es gibt keine Entschuldigung, es soll kein Verständnis dafür geben, kein mögliches Verzeihen dem Terror gegenüber. Niemals - sagen die Franzosen. Aber wer demokratische Wahlen bewußt stoppt, muß damit rechnen, daß er es bald mit undemokratischen Folgen zu tun hat.

Am 21. Oktober erklärten in einer Umfrage 31 Prozent der Franzosen, daß sie wünschten, Frankreich möge sich von der offiziellen algerischen Regierung fernhalten. Das ist natürlich keine Mehrheit. Aber ist es denn unentbehrlich, immer nur mit einer Umfragemehrheit zu regieren? Soll eines Tages ein wirtschaftliches Europa entstehen - geschweige denn ein politisches -, so wird Frankreich im Sommer und Herbst 1995 kaum dazu beigetragen haben.

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