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Eine unparteiische Zeugin

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Die Vorgeschichte der verhängnisvollen Februartage des Jahres 1934 und der in automatischem Gefälle sich anschließende Ablauf der Ereignisse bis März 1938, haben in den letzten zwei Jahren wiederholt bei uns die politische Auseinandersetzung zwischen links und rechts beschäftigt.. Nicht in glücklicher Weise. Die leidenschaftlichen parteipolitischen Kämpfe jener' Zeit hatten ihre Ursachen in tatsächlichen und persönlichen Gegebenheiten, die heute nicht mehr bestehen und auch nicht mehr Gültigkeit erlangen dürfen. Die unheilvollen Geister von damals vor die Gegenwart zitieren zu wollen, ist sinnlos, und schädlich. Wir haben Besseres zu tun, als alte Fehden zu erneuern, denen heute die Voraussetzungen fehlen; wir sind im Grunde doch alle einer Meinung, daß heute unser Land eine geschlossene Verteidigungsfront braucht. Deshalb ist auf die neue österreichische Variante des leidensdiaftlidien „Nem, nem, soha“! Nein, nein, niemals vergessen oder anerkennen!, die wiederholt von links zur trotzigen Beschwörung der Vergangenheit sich erhob, von der anderen Seite nie eine ganze Antwort erfolgt, weil man sich mit Recht sagte: Soll man wieder mit dem gegenseitigen Vorhalt der alten Sündenregister beginnen? So blieben jene Anklagereden nicht viel mehr als Monologe, ohne daß es sicher gewesen wäre, daß das Schweigen der einen von der andern Seite verstanden und gewertet worden wäre. Nun ist es eine englische Sozialistin Mary MacDonald, die in einer Veröffentlichung, die unter den Auspizien des 1920 begründeten Londoner Königlichen Instituts für Internationale Angelegenheiten, einer unpolitisdien und un-oifiziellen Einrichtung erschienen* ist, zu dem Thema mit großer Unparteilidikeit unter dem Titel: „The Republic of Au Stria 1918—1934. A Study in the failure of demoeratie Government“ das Wort ergreift. Der Verfasserin kamen bei ihrer Arbeit sichtlich gute persönliche Beziehungen zustatten, die ihr Einblicke in die politische Psychologie der damaligen Zeit in- Österreich, und namentlich des sozialdemokratischen Lagers, erlaubten. Ihr Bemühen, das Bild nicht einseitig zu gestalten, ist erkenntlich. Dje ihr gelegentlich unterlaufenden Fehler sind für das Gesamtergebnis nidit bestimmend.

Die englische Verfasserin erspürt sich in ihrer Untersudiung die Hintergründe des damaligen politischen Geschehens; die zwiespältige Natur einer der damaligen ausschlaggebenden Führerpersönlichkeiten des sozialdemokratischen Lagers, Otto Bauers, fesselt sie; eine hohe Intelligenz und politisdie Begabung, ist er im Grunde der Gewalt abgeneigt, aber ihm geht es um die Eroberung der alleinigen Macht im Staate für seine Partei und dabei verwickelt er sich in revolutionäre Theorien. So sieht die englische Sozialistin die Situation. Nodi nach 1927 dringt Otto Bauer auf Mäßigung in seiner Partei, versucht er immer wieder ein Einverständnis mit den anderen Parteien in Bezug auf pHe gegenseitige Abrüstung zu erreichen. Aber seine Theorie wird schließlich stärker als sein eigentlicher Wille.

„Es wurde“, fährt die Verfasserin fort, „zunehmend schwieriger, die revolutionären Theorien mit tatsächlicher Mäßigung zu vereinigen und seit Frühjahr 1933 war es deutlidi, daß die Führer der Sozialdemokratie nicht länger in der Lage waren, die Partei in der Hand zu haben, der sie so lange Revolution gepredigt hatten.“

„Die Geschichte Dsterreidis von 1927 bis 1934“, sagt Mary MacDonald sehr richtig, „ist die Geschichte von Macht, die sich auf Grund einer anderen Macht nährt. Beide Gegner rüsteten, weil ihre Rivalen so taten, obwohl die Gemäßigten auf beiden Seiten willens waren, die Waffen niederzulegen, wenn die ander Partcj es zuerst tun würde... Der Sieg der Extremisten war zum Teil eine Konsequenz der auf beiden Seiten bestehenden Tendenz zu einer Art Parteitotalitarismus. Das trifft im besonderen Maße für die sozialdemokratische Seite zu, denn die Neigung des Bürgcrblocks, sich in kleine Gruppen aufzusplittern, verhinderte die volle Auswirkung dieses Prinzips auf dieser Seite. Die' Sozialdemokraten jedoch hatten von Anfang an besondere Betonung auf die Notwendigkeit gelegt, eine .geeinigte Front der Außenwelt gegenüberzustellen und waren in der Tat offenkundig dabei erfolgreich gewesen. Ihre Organisation in Wien war ein Staat im Staate. Ihre Mitglieder wurden kaum mit dem wirklichen bürgerlichen Standpunkt bekannt, weil sie gar keine Gelegenheit hatten, mit der bürgerlichen Gesellschaft sich zu vermischen. Der Heimwehr erklärtes Ziel sei der Sturz der Herrschaft der Parteiregierung gewesen und sie sei deshalb scharfen Angriffen von der anderen Seite begegnet. Aber in Wirklichkeit w?r die Haltung auf beiden Seiten in gleicher Weise einer parlamentarischen Demokratie widersprechend. Der einzige Unterschied bestand nur darin, daß es den Sozialdemokraten gelang, ihre Partei zusammenzuhalten, während die Heimwehr immer mehr auseinandersplitterte. Es ist unschwer zu sagen, daß die extreme Betonung der Parteiorganisation der Sozialdemokratie im Effekt das natürliche Arbeiten der Verfassung ebenso in Frage stellte als die Heim-wehrbewcgimg.“

Wiederholt unterstreicht die englische Verfasserin die Rolle Doktor Renners, der immer wieder, wie auch Dr. Ellenbogen, vor gewalttätigen Abenteuern gewarnt habe, aber Dr. Renner sei nidit in der Stellung gewesen, in der er die Führung der Partei entscheidend beeinflussen konnte.

Es kann nicht überraschen, daß die eng-lisdie Autorin auch gegen die Politik der Christlichsozialen und ihres Führers, Doktor S e i p e 1, Einwendungen hat, aber sie fühlt sich gegenüber letzteren aus „Fairneß“ zu der Feststellung verpflichtet, daß er, der Priester, „nicht umsonst sich gegen die damalige anti-kirchliche Politik der Sozialdemokratie gewendet habe, denn — wie nicht bestritten werden könne — es seien die meisten Führer der Sozialdemokratie damals nicht bloß nur antiklerikal, sondern auch anti-christlich gewesen.“

Es sei an diesen Zitaten genug. Sie gelten nur der Beachtung des ersten gründlichen Versuches, aus dem Geiste englischer sozialistischer Tradition, aus dem Geist der Labour Party heraus, die Geschehnisse jener kritischen Jahre Österreichs abzuwägen. Wir möditen hoffen, daß dieser Versuch vor dem Inland ein Beitrag sei, zu einer leidenschaftsloseren und tatsachennäheren Betrachtung der Vergangenheit,

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