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Englands Liberale hoffen

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Bald jährt sich zum fünfundsiebzigstenmal der Tag, an dem William Ewart Gladstone sich dem Ziele nahe glauben konnte, dessen Verwirklichung er seit seinem Uebertritt von den Tories zu den Liberalen, dreißig Jahre früher, zu seiner Lebensaufgabe gemacht hatte; dem Ziel, die irische Frage, in der er ein tödliches Geschwür am Körper Englands erblickte, in einem großzügig fortschrittlichen Sinn zu lösen. Nach dem liberalen Wahlsieg von 1885 neuerdings mit der Regierungsbildung betraut und gestützt auf eine gegenüber dem vorhergehenden Parlament mehr als verdoppelte Mehrheit, die sich aus 84 Liberalen und 82 irischen Nationalisten zusammensetzte, brachte er eine Gesetzesvorlage ein, die eine autonome Regierung und eine eigene legislative Körperschaft für Irland vorsah und im Wege einer ausgiebigen staatlichen Kreditgewährung den gepeinigten irischen Kleinpächtern, die von den englischen

Großgrundbesitzern rücksichtslos ausgebeutet wurden, den Erwerb von eigenem Grund und Boden und wirtschaftliche Selbständigkeit ermöglichen sollte. Aber damit hatte er der freiheitlichen Ueberzeugung vieler seiner Parteigenossen zuviel zugemutet. Nach heftiger Debatte wurde der Gesetzentwurf, durch dessen Annahme unendlich viel Leid und schwere Blutopfer erspart geblieben wären, vom Unterhaus abgelehnt, wobei 93- Liberale mit der konservativen Opposition gegen den Premierminister gestimmt hatten. Dieser Abfall der Dissidenten, die sich, ihren Widerstand gegen jede Lockerung der englischen Hand in Irland damit dokumentierend, als Unionisten bezeich- neten und ein enges Bündnis mit den Konservativen schlossen, schaltete die Liberalen, bis auf ein kurzes Zwischenspiel, durch zwanzig Jahre von der Führung des Staates aus; ein Intervall, das sich für die weiteren Chancen ihrer Partei verhängnisvoll auswirken sollte. Denn wenn sie auch mit den Wahlen von 1906 durch einen in seinen Ursachen nie ganz geklärten politischen Erdrutsch seltenen Ausmaßes — sie gewannen eine Mehrheit von 356 Sitzen — wieder zur Macht gelangten und auf Grund der Wahlergebnisse von 1910 die Führung, allerdings mit stark reduzierter Majorität, auch noch bis nach dem Ende des ersten Weltkrieges behaupten konnten, so hatten sie in der Zeit ihres politischen Exils soviel Schwungkraft eingebüßt, daß sie mit der Bewegung, die, aus der Fabian Society hervorgegangen, unter der Flagge „Labour" oder „Liberale Labour", erstmals bei den Wahlen von 1892, und damals noch sehr bescheiden in Erscheinung getreten war, im späteren Verlauf nicht mehr Schritt zu halten vermochten. Der mitten im ersten Weltkrieg ausgetragene Machtkampf zwischen zweien ihrer prominentesten Führer, Asquith und Llovd George, der mit dem Sieg des dynamischen Walisers endete, trug Mitschuld an der inneren Zersetzung, von der sich die Liberale Partei nicht mehr ganz erholen sollte. Konnte sie mit ihren beiden Fraktionen, der Nationalen und der Unabhängigen, im Jahre 1929 zusammen noch 59 Parlamentssitze erobern, so fiel die Zahl der orthodox Liberalen, für die ein Bündnis mit den Konservativen nicht in Frage kam. in dem 1945 gewählten Parlament auf 12, fünf Jahre später auf 9, und nach dem Wahloang von 1951 auf 6 Abgeordnete. An dieser Zahl haben auch die Wahlen von 1955 und Oktober 1959 nichts geändert.

Englands Liberale blicken auf eine große Ver- gengenheit zurück, aber keine politische Par.tei kann auf die Dauer von Triumphen leben, die der Geschichte angehören. Ueber eine Partei, die nicht mit der Zeit geht, geht die Zeit hinweg. Trotz den wiederholten, sehr bitteren Enttäuschungen der letzten vierzig Jahre hat sich diese Erkenntnis bisher weder bei der liberalen Führung durchsetzen können noch hat sie einen at :b in den schlechtesten Zeiten immer noch einerlichen Anteil der Wählerschaft verhindert, einer Partei die Stimme zu geben, die zwar so gut wie keine Aussicht hatte, in absehbarer Zeit wieder die Regierung zu stellen, aber vielleicht doch noch eine Position erringen würde, in der sie als Zünglein an der Waage zwischen den Konservativen und Labour eine entscheidende Rolle spielen könnte. Diese Hoffnung hat neue Nahrung bekommen durch den Umstand, daß bei den jüngsten Wahlen die Zahl der für liberale Kandidaten abgegebenen Stimmen 1.6 Millionen überstieg und sich somit gegenüber dem Wahlergebnis von 195 5 weit mehr als verdoppelt hatte; ein Zuwachs, der in etwa zwanzig Wahlkreisen offenbar zu einem guten Teil aus dem sozialistischen Lager erfolgte und die Ursache war, weshalb der Labour-Kandidat um den sicher erwarteten Sieg kam. Das nun wird dem liberalen Parteiobmann Grimond und seinen engeren Klubgenossen wohl zu denken geben; mehr als die ziemlich zwecklose Rechnung, daß die Partei, falls in Großbritannien das System der Proportionalwahl in Geltung wäre, im heutigen Parlament mit etwa 32 statt bloß mit 6 Abgeordneten vertreten sein würde. Sie werden sich zweifellos sehr ernstlich mit der Frage beschäftigen, w’as für Aenderungen vor- genommen werden müßten, um das Parteiprogramm attraktiver zu gestalten und auf diese Weise, nach so vielen vergeblichen Versuchen,

den erhofften Massenzuzug, von links vor allem, aber auch von rechts, zu gewinnen.

Die Aufgabe ist naturgemäß nicht leicht. Bei jeder radikalen Aenderung des Parteiprogramms, und mit kleinen Korrekturen oder Gewichtsverlagerungen ist ja nichts getan, besteht die Gefahr, daß ein Teil der bisherigen Wähler, verärgert über den Bruch mit einer „heiligen Tradition", sich abwenden wird und eine neue parteipolitische Heimat sucht. Auch engt sich das Gebiet, auf dem zugkräftige programmatische Neuerungen geboten werden können, immer mehr ein. In einer langen Reihe von Punkten sind die früheren prinzipiellen und scharfen Gegensätze zwischen Konservativen, Liberalen, Sozialisten einer weitgehenden Uebereinstim- mung gewichen. Vom Laissez-faire des klassi- scheh',Liberalismü?'isb (Fef dtitigef britische ö- beräle nicht weniger weif entfernt als sein kon- seriiMW -pder s 9zftlÄti?i3itf 0l??egndi; tiM'lf hat sich mit staatlichen Eingriffen auch in Sphären abgefunden, die er noch vor wenigen Jahren im Namen persönlicher Freiheit mit äußerster Erbitterung verteidigt haben würde. Er denkt ebensowenig wie der Parteigänger anderer Couleurs daran, das Rad der sozialpolitischen Entwicklung zurückdrehen und etwa Einrichtungen der öffentlichen Wohlfahrt antasten zu wollen, die zu einem festen Bestandteil des nationalen Lebens geworden sind. Und wenn die Liberalen entschiedene Gegner des sozialistischen Verstaatlichungsdogmas sind, so sind es ja die Konservativen desgleichen, und morgen werden die Sozialisten, belehrt durch die Serie ihrer Wahlniederlagen, es vielleicht selbst sein. Anderseits wird sich die liberale Parteiführung darüber Rechenschaft geben müssen, daß die Parole des Antiimperialismus, die sich in früheren Generationen so oft als die stärkste und wichtigste Waffe gegen die Konservativen bewährt hatte, zusehends an Gewicht und Kampf- wert verliert. Aus dem noch bestehenden Rest der irischen Frage läßt sich das Arsenal der Liberalen nicht mehr auffüllen, ebensowenig wie etwa mit der Erinnerung an das Blutbad von Amritsar, welches den britischen Abzug aus Indien beschleunigt hat, oder mit der Aufzählung der Mißerfolge und Schlappen, die Großbritannien unter konservativer Führung etwa in Aegypten, auf Zypern oder im Irak erlitten hat. Was vom britisch-konservativen Imperialismus und Kolonialismus noch übrig ist, geht Tasch dem Ende entgegen, in wenigen Jahren, vielleicht schon vor den nächsten Wahlen, wird eine alte Parole völlig gegenstandslos geworden sein.

Damit ist nicht gesagt, daß die liberale Partei dazu verurteilt ist, ein praktisch bedeutungsloses Relikt der Vergangenheit zu bleiben. Wenn sie den Mut und die Energie aufbringt, gegen zwei Uebel zu Feld zu ziehen, die in allen Schichten und in den weitesten Kreisen der britischen Bevölkerung Unmut, ja Erbitterung hervorrufen, nämlich gegen die Hybris der Gewerkschaftsbosse, die aus purem Uebermut und oft gegen den Willen ihrer terrorisierten Gefolgschaft ganze Wirtschaftszweige lahmlegen, und zweitens gegen das Ueberwuchern einer Bürokratie, die in angemaßter Selbstherrlichkeit praktisch inappellable Entscheidungen fällt, dann kann diese Partei des Anschwellens ihrer Reihen sicher sein.

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