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Englische Wahlen im Zwielicht

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Die Bedeutung der englischen Wahlen vom 23. Februar 1950 erschöpft sich nicht in der vertikalen Entscheidung, ob Großbritannien in den nächsten fünf Jahren von den Konservativen oder von der Arbeiterpartei regiert werden soll. Die große Alternative, die sich hinter diesem Wahlkampf erhebt, durchschneidet die bestehenden Parteien sozusagen in horizontaler Richtung. Sie geht die ganze westliche Welt an: Soll mit einer betont bürgerlichen Einheitspartei oder einer solchen Koalition der Versuch unternommen werden, das Prinzip der Freiheit des Eigentums, der Produktion und des Handels ungeschmälert gegen jede Art von Sozialismus zu verteidigen, oder soll der Gegensatz bürgerlich — sozialistisch angesichts der kommunistischen Expansion aufgegeben und ein sozial-demokratischer Block mit Einschluß der bürgerlichen Parteien gegen den Kommunismus und den Linksradikalismus gebildet werden? Diesen zweiten Weg scheinen Italien und Frankreich zu gehen, und er ist wohl überhaupt charakteristisch für die politische Entwicklung auf dem europäischen Kontinent westlich des Eisernen Vorhangs. In England bestehen aber zweifellos in einer mächtigen alten Industrie und einer kompakten Society starke Kräfte, die sich für eine glatte Absage an alles Kompromittieren mit sozialitischen Ideen einsetzen. Bezeichnend dafür ist, daß die National-Liberalen, die im bisherigen Parlament allerdings bloß über 13 Sitze verfügen, ein Wahlbündnis mit den Konservativen unter der Parole .Vor allem Kampf gegen den Sozialismus!“ geschlossen haben. Nur die von Clement Davies geführten Altliberalen, die heute auf zehn Mandate zusammengeschrumpft sind, glaubten den historischen Gegensatz zu den Konservativen nicht aufgeben zu sollen und ziehen allein mit 400 Kandidaten, gesteigerten Hoffnungen und einem Programm in den Wahlkampf, das die Förderung der landwirtschaftlichen Produktion auf der Basis einer großzügigen Bodenreform in den Mittelpunkt stellt und für einen weitgehenden Regionalismus in der Verwaltung eintritt.

Wie verwaschen im übrigen heute die einst so scharfen Gegensätze zwischen konservativ und liberal sind, zeigt sich unter anderem darin, daß von konservativer Seite gegen das liberale Programm der Vorwurf einer Verletzung des Copyright erhoben wurde, worauf die Antwort erfolgte, die Konservativen hätten auf dem Gebiet sozialpolitischer Reformen schon seit langer Zeit beträchtliche Anleihen bei dem liberalen Gedankenkreis gemacht.

Die Argumente, die für die Preisgabe einer gegen den Sozialismus gerichteten ausgesprochen bürgerlichen Linie unter den heutigen Umständen ins Treffen geführt werden können, hat Sir Stafford Cripps kürzlich in einer Rede in High Wycombe so formuliert: „Wenn die Demokratie heute mit jenen persönlichen Freiheiten aufrechterhalten werden soll, welche die meisten von uns gewahrt zu sehen wünschen, dann muß sie die Formen einer sozialen Demokratie annehmen, und sie muß von Parteien und Regierungen geführt werden, die einer breiten Erfassung aller politischen Probleme vom Standpunkt des einfachen Menschen und nicht von dem einer privilegierten Volksschichte aufgeschlossen sind. Denn heute besteht die Gefahr eines Pendelausschlages entweder in die Richtung einer kapitalistischen Demokratie, die sehr leicht die Vorläuferin des Faschismus werden kann, oder in die Richtung totalitärer Formen des Linksradikalismus, wie sie der Kommunismus darstellt. Auf diese Weise finden sich so oft reaktionäre und revolutionäre Kräfte zu einer unseligen Partnerschaft gegen eine wahre und standfeste Demokratie zusammen.“ Die Crippssche Argumentation wird auch von der Mehrzahl der lebenden sozialpolitischen Theoretiker Englands unterstützt, vor allem von Toynbee, dem berühmten Verfasser des monumentalen Werkes ,,A Study of History“.

Die Wahlkampagne wird von den Konservativen natürlich mit den schärfsten Parolen gegen das Labourregime durchgefochten, aber schon jetzt läßt sich sagen, daß die Angriffe auf sozialpolitischem Gebiete im großen und ganzen mehr den Methoden als dem Prinzip der Sozialisierungen, auf politischem und staatsfinanziellem Gebiet mehr den Prestigeeinbußen als der Schaffung einer neuen Lage in Indien und Ägypten oder der Tatsache der Pfundabwertung gelten werden. Das konservative Wahlprogramm zeigt ein überraschendes Verständnis für die Ratsamkeit gewisser Verstaatlichungen, wie sehr es auch den Teufel eines totalitären Staates an die Wand malt, wenn Labour berufen werden sollte, noch fünf Jahre an der Macht zu bleiben. Unter diesen Umständen erscheint die Bildung einer Koalitionsregierung für den Fall eines ausgeglichenen Wahlausgangs nicht unmöglich. Alle taktische Geschicklichkeit und politische Fairneß A 111 e e s ändern nichts an der Tatsache, daß seine Partei belastet mit der Pfundabwertung und einem zerrütteten Staatshaushalt in den Wahlkampf eintritt. Attlee ist wohl der erste, der sich dessen bewußt ist. Er hat deshalb die Wahlen vor der Einbringung des Budgets und vor dem Eintritt einer neuen Teuerungswelle als Nachwirkung der Pfundabwertung angesetzt. Sicherlich begibt sich aber Labour auch nicht unbewehrt in die Wahlschlacht. Ihre wirksamsten Waffen sind die Vollbeschäftigung, welche die Arbeiterregierung aufrechtzuerhalten verstanden hat, allerdings, was sie gerne verschweigt, mit Hilfe der Zuwendungen aus dem Marshall-Plan, und die Drohung mit der Arbeitslosigkeit im Falle des Übergangs zu einem rein konservativen Kurs. Auch wird Labour zugute kommen, daß umfangreiche Verstaatlichungen der Partei, die sie durchführt, in dem damit zusammenhängenden Stabe von Angestellten und sonstigen Interessenten einen festen Stock von Wählern verschaffen. Daher hat auch die Arbeiterpartei in ihrem Wahlmanifest weitere Verstaatlichungen in Aussicht gestellt, unter anderem in der

Rübenzuckerindustrie, der Zementindustrie und in einigen chemischen Industrien, und zugleich die Befürchtungen vor einer neuen Teuerungswelle durch den Plan einer organisierten Erhöhung der inländischen Lebensmittelerzeugung zu zerstreuen versucht. Dies alles dürfte aber kaum verhindern, daß die Partei von ihren 388 Parlamentssitzen eine gewisse, wahrscheinlich nicht unbeträchtliche Zahl an die Konservativen, die heute nur über 202 Mandate verfügen, und an die Liberalen wird abgeben müssen.

Wiewohl Churchill mit seiner ungestümen Vitalität die Rückkehr der Konservativen zur Macht begehrt, könnte dieser Partei schwerlich etwas Unangenehmeres widerfahren. Denn es ist wohl leicht, in der Opposition blendende Formulierungen zu finden und kühne außenpolitische Konzepte zu entwickeln, aber die Bewältigung der. sozialen und wirtschaftlichen Probleme, welche die Labourregierung einer konservativen Nachfolgerin als Erbschaft hinterlassen würde, erfordert eine Geschlossenheit der Anschauungen und Absichten, über welche die Konservative Partei heute nicht verfügt. Es wäre ein Irrtum, wenn man die starke Wirkung, welche die brillante, phantasievolle und tatenfreudige Persönlichkeit Churchills auf die Öffentlichkeit ausübt, mit dem politischen Vertrauen verwechselte, das diesem ehemaligen Liberalen von den besonnenen Hütern altkonservativer Tradition entgegengebracht wird. Der Herstellung und Einhaltung eines festen und klaren Kurses durch eine künftige Regierung Churchill stünden auch außenpolitische Divergenzen im Wege, die hauptsächlich das Verhältnis zu den Vereinigten Staaten und zum Europarat betreffen. Churchills erste Radiorede zur Eröffnung der Wahlkampagne hat dadurch enttäuscht, daß er dem gefürchteten sozialistischen Leviathanstaat die Lust der persönlichen Freiheit und Verantwortung gegenüberstellte, was weder neu war noch unter den heutigen Verhältnissen eine politische Linie bedeutet.

In ihren sozialpolitischen und wirtschaftlichen Verheißungen gleichen, aller rethorischen Verbrämungen entkleidet, die bisher vernommenen Wahlreden der Konservativen, Nationalliberalen, Liberalen und der Prominenten des gemäßigten Labourflügels einander so sehr, daß man sich des Eindrucks nicht erwehren kann, sie stünden nur in einem hypothetischen Verhältnis zu den Entschlüssen und Handlungen, die ihnen folgen würden, wenn die Sprecher auf die Regierungsbank gelangten. So wenig deckt sich die schwerwiegende Alternative, auf die eingangs hingewiesen wurde, mit den pragmatischen Gegensätzen zwischen den Parteien. Die großen Entscheidungen werden nicht in den Wahlen selbst fallen, die diesmal wie in einem politischen Zwielicht vor sich gehen werden; sie werden erst nach den Wahlen gesucht werden müssen.

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