Estlands steter Drang zur Unabhängigkeit

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Die Kommunisten haben es nicht geschafft, den Esten den Nationalstolz auszutreiben. Doch ist Estland durch die Sowjet-Okkupation ein entkirchlichtes Land geworden.

In der Reihe des Gedenkens daran, was vor 100 Jahren geschah, beginnt eine nächste Phase: 100 Jahre ist es her, dass in Folge des Ersten Weltkrieges letztlich alle teilnehmenden Staaten nach ergebnislosen Kämpfen am Boden liegen. Kaum etwas bewegt sich. Die Kräfte sind erschöpft. Nach der Oktoberrevolution in Russland 1917 brauchen die Bolschewiken Handlungsspielraum, um Errungenes nicht zu gefährden. In dieser Situation wird der Friedensvertrag von Brest- Litowsk 1918 eine Neuordnung des osteuropäischen Raums anbahnen. Neue Staaten entstehen, wie zum Beispiel die unabhängig werdenden Republiken Estland, Lettland und Litauen. Zuvor müssen sich diese noch gegen allerlei Raum-und Machtansprüche der russischen Kommunisten, auch des Deutschen Reiches und der Polen wehren. Ein Prozess, der sich über einige Jahre hinziehen wird.

Vorgezogene EU-Präsidentschaft

Da passt es, dass sich auch heute die Feierlichkeiten zur 100-jährigen Unabhängigkeit über einen Zeitraum von mehreren Jahren erstrecken. Am vergangenen Wochenende beging der kleinste der drei baltischen Staaten seinen Geburtstag: Estland feierte 100 Jahre Unabhängigkeit. Gerne hätten die Esten dies in Verbindung mit der von ihnen ausgeübten EU-Ratspräsidentschaft getan, doch hat ihnen der Brexit einen Strich durch die Rechnung gemacht. Da die Briten für eine Ratspräsidentschaft nicht mehr zur Verfügung standen, rückten die Esten um ein halbes Jahr nach vorne und waren schon im zweiten Halbjahr 2017 mit ihrem Vorsitz am Zug.

Mit dem 23. Februar 1918 verbinden die Esten das "Manifest für die estnischen Völker", das vor 100 Jahren von der Hauptstadt Tallinn aus verkündet wurde. Der Erinnerung nach sieht die Geburtsstunde der Republik Estland so aus, dass die Menschenmenge unwillkürlich die künftige Nationalhymne "Mu isamaa, mu õnn ja rõõm" ("Mein Vaterland, mein Glück und meine Freude") zu singen beginnt. Estland und der Nachbar Finnland teilen sich übrigens bei ihrer je eigenen Hymne dieselbe Melodie. Singen steht gerade in den baltischen Ländern für die subversive und gewaltfreie Kraft gegen allen Totalitarismus. Dies geschah zur ersten Unabhängigkeit vor 100 Jahren wie auch in Form der "singenden Revolution" bei der Loslösung von der Sowjetunion. Die aktuellen Feierlichkeiten sind gleichermaßen ein wenig subversiv, besser interaktiv geplant. Kulturelle Veranstaltungen in allen Ländern und an allen Orten sollen sich dezentral als "Geburtstagsgeschenk an Estland" ereignen und werden in dem Programm "Estland 100" lediglich zusammengefasst und beworben.

Die Kommunisten haben es nicht geschafft, den Esten den Nationalstolz oder auch die Freude am Singen von nationalem Liedgut auszutreiben. Zugleich lässt es aufhorchen, dass Estland infolge der sich über ein halbes Jahrhundert erstreckenden sowjetischen Okkupation ein entkirchlichtes Land geworden ist. Nur etwa 16 Prozent der Bevölkerung bekennen sich zum orthodoxen und zehn Prozent zum lutherischen Glauben. Katholiken wie Juden und Muslime gehören zu den religiösen Minderheiten im Land. In diesem Punkt unterscheidet sich Estland von den beiden anderen baltischen Ländern: Etwa 25 Prozent der Letten und 80 Prozent der Litauer bekennen sich zur römisch-katholischen Konfession.

Raue Natur, Weite der Wälder

Die Reformation etablierte sich in Estland ja schon frühzeitig, 1524. So prägte das Luthertum das religiöse Gesicht des Landes nachhaltig und begründete zugleich dank der Bibelübersetzung die Entwicklung der estnischen Schriftsprache. Nur die Staatlichkeit fehlte. Nach dem Zweiten Weltkrieg und der Vertreibung der Deutschen und der Eingliederung in die Sowjetunion ging diese kirchliche Prägung hingegen zunehmend verloren. Heute gibt es unterschiedliche Flügel innerhalb der lutherischen Kirche mit einer im Norden eher hochkirchlichen und staatstragenden und einer im Süden eher liberalen Ausprägung. Als im Sommer 2017 in Tartu/Dorpat der Jubiläumskongress der Estnischen Evangelisch-Lutherischen Kirche stattfand, verbanden die Protestanten das Reformationsjubiläum "500 Jahre Reformation" mit der Erinnerung an den ersten estnischen Kirchenkongress im Sommer 1917 - gekennzeichnet durch das Symbol des Apfelbaums als Hoffnungsträger und Luthererinnerung. Damals, 1917, wurden ebenfalls in Tartu die Weichen für die Gründung einer freien Nationalkirche in Estland gestellt. So war es aufschlussreich, wenn nun die estnische lutherische Pfarrerschaft am vergangenen Sonntag den Gemeinden zur Unabhängigkeitsfeier ausdrücklich gratuliert und ein Hirtenwort des Erzbischofs Urmas Viilma vorgetragen hat, in dem sich estnischer Nationalstolz und protestantischer Glaube verbinden.

Doch hat es noch andere Gründe, dass die Esten auch in religiöser Hinsicht eine große Neigung zur Unabhängigkeit haben: Die bloße und raue Natur stand seit jeher für das unberechenbare Gegenüber zum Einzelnen. So förderte die unermessliche Weite der estnischen Wälder geradezu eine naturreligiöse Spiritualität. Ferner unterstand über Jahrhunderte das Land dem Deutschherrenorden und wurde dezentral von deutschen Lehnsherren beherrscht. Freie Religionsausübung war da eher etwas für die Städte und Leibeigenschaft noch bis weit ins letzte Jahrhundert in der Weite des Landes anzutreffen. Die Frage mag da berechtigt sein, ob denn der christliche Glaube bei den Bewohnern des Landes wirklich im Herzen angekommen war.

Papstbesuch 2018

Heute sind es etwa 200 evangelische Pfarrer, die in diesem weitläufigen Land ihren Dienst verrichten. Nur etwa ein Viertel der evangelischen Christen sind übrigens auch Kirchenmitglieder. Um Mitglied zu werden, müssen sie sich erst konfirmieren lassen, was den vorangehenden Unterricht auch im Erwachsenenalter voraussetzt. Ausdrücklich gehören zur Pfarrerschaft auch Pfarrerinnen, was die estnische lutherische Kirche von der lettischen lutherischen Kirche unterscheidet, deren Synode 2016 entschied, Frauen durch eine Verfassungsänderung vom geistlichen Amt auszuschließen. Dort, in Lettland, ist dies wohl auf eine stark konservative, von den USA ausgehende protestantische Theologie zurückzuführen. Selbst scharfe internationale Kritik und Verhandlungen der ökumenischen Partner im Lutherischen Weltbund wie auch der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) konnten hierauf keinen Einfluss nehmen.

Anlässlich der 100-jährigen Unabhängigkeit hat auch die römischkatholische Kirche ein besonderes Ereignis angekündigt: Papst Franziskus hat für Herbst 2018 seinen Besuch in den drei baltischen Ländern angekündigt. Der letzte Besuch von Papst Johannes Paul II ereignete sich zu Beginn der zweiten Unabhängigkeit vor 25 Jahren. Für das deutlich katholisch geprägte Land Litauen ist es ein herausragendes Ereignis. Für Estland wohl eher eine Herausforderung, um daran zu erinnern, dass der christliche Glaube überkonfessionell gesellschaftliche Wirkkraft entfalten kann.

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