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Etablierte rote Buchhalter

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Denn der Mensch war einsam in dieser V. Republik, die von erstklassigen Technokraten in einer vorbildlichen Form gelenkt wurde. Frankreich war sehr stolz auf seine Planbehörden, den Ausbau der Industrien und liebte es, von den Mutie- rungeh - der' technischeii’ Zivilisation zu sprechen. Diese Konsumgesellschaft,:'ih der jėdė’r' rÖclcsfch’föiosä und junge Streber sehr viel verdiente, vermochte den Aspirationen der heranwachsenden Generation kaum gerecht zu werden.

Betrachten wir einmal die politischen Parteien: Die Kommunistische Partei verwendete revolutionäre Begriffe, aber sie war schon lange keine Bewegung des Fortschrittes, der Erneuerung, sondern errichtete eine aufgeblähte Bürokratie, um der arbeitenden Klasse bescheidene und kleine Vorteile zu sichern. Der Verfasser erinnert sich an den gewaltigen Volkstribun Maurice Thorez,als dieser im überfüllten Sportpalast 1947 zum Aufstand gegen die bürgerliche Ordnung aufrief. Wenn man die Haltung des jetzigen Generalsekretärs der Kommunistischen Partei, Waldeck-Rochet, in der gegenwärtigen Krise betrachtet, sieht man einen ängstlichen Buchhalter, der in den Kategorien von Maß und Ordnung denkt und jede Illegalität entschieden ablehnt. Streiks, ja! Allgemeine Wahlen, ja! Aber die schwarze Fahne der Anarchisten, die wilden Worte eines Cohn-Bendit, ein Aufstand links von der Partei, das alles paßte nicht in das Weltbild dieser disziplinierten Kleinbürger, die verzweifelt für die Aufrechterhaltung des Staates und seiner bisherigen Form kämpften. Nichts berührt eigenartiger als diese Haltung der Kommunistischen Partei Frankreichs, die im letzten die Rettung des Regimes gesichert hat.

Am Mittwoch, dem 29., und Donnerstag, dem 30. Mai, wäre es einer echten revolutionären Bewegung möglich gewesen, die Macht im Staate zu ergreifen. Die Regierung schien sich selbst aufgegeben zu haben. Zahlreiche Freunde des Gaullismus boten bereits den kommenden Herren ihre Dienste an. Die Ratten verließen das sinkende Schiff. Ein Lenin hätte nicht gezögert und die Besetzung der Regierungsgebäude in Angriff genommen. Ohne Zweifel würden die Studenten und Teile der Arbeiterschaft solchen revolutionären Losungsworten gefolgt sein. Aber niemand gab sie. Im Gegenteil, die CGT distanzierte sich sichtlich von den revoltierenden Stu denten und verbot ihren Anaehörigen, an solchen Kundgebungen teil-zunehmen. Eigentlich war es die christliche Gewerkschaft CFDT, die den Streiks politische Akzente verlieh und gemeinsam mit den Studenten eine Änderung der bestehen- ; den staatlichen Ordnung anstrebte. Wifkentieft" natürlich "nfth'C'alie 1 Überlegungen des weltkommunisti- ’ sehen Lagers. Bezeichnenderweise | hat die Sowjetunion die Mairevolu- t tion in Frankreich so gut wie nicht unterstützt und es bei einem milden Tadel des französischen Kapitalismus belassen. Die Sowjetunion ! wünschte sichtlich die Beibehaltung des gaullistischen Regimes, da dieses den außenpolitischen Erwartungen der östlichen Großmacht entspricht. Es liegen keine wie immer gearteten Beweise vor, daß die Sowjetunion die Kommunistische Partei Frankreichs und ihre Gewerkschaftszentrale CGT ermuntert hätte, die Streik? in bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen ausweiten zu lassen. Alle politischen Beobachter sind sich darüber einig, daß die KP — es klingt sonderbar — die Rolle einer beinahe konservativen Partei übernommen hat. Es ist zu verständlich, daß die meisten Jugendlichen von wirklich revolutionären Worten und Vorstellungen angezogen werden, den bärtigen Männern aus Kuba huldigen, die Kulturrevolution eines Mao verherrlichen oder in grenzenlosen politischen Nihilismus verfallen. Die Kommunistische Partei Frankreichs bietet ihrer Jugend kein revolutionäres Image, sondern stellt eine Ordnung vor, die wohl sozialistisch, aber ebenso ausgesprochen langweilig ist. Niemals und in keinem Moment konnte die orthodoxe kommunistische Jugend die Ereignisse beeinflussen oder ihnen eine neue Richtung geben.

Beinahe das gleiche darf von der

Linken und Sozialistischen Föderation gesagt werden. Die gewiegten Parteipolitiker der IV. Republik taumeln dort herum und verwenden Begriffe, die schon vor zehn Jahren ihren Wert verloren hatten. Ihr Chef Mitterrand ist sicherlich ein sehr gewandter Taktiker, aber wer ihn in diesen Maitagen erlebte, wußte, daß von diesem Mann nicht jene Ausstrahlung ausgeht, um von einer Krise zu einer neuen staatlichen und politischen Ordnung zu gelangen. Diese Männer handhaben vorzüglich die Intrigen in den Kulissen des Parlaments, sie verstehen es, einen

Politiker in den Vordergrund zu rücken, um ihm kurz darauf das Messer in den Rücken zu stoßen. Natürlich beherrschen sie bestens die feinsten Methoden der internen Parteistrategie und wissen, wie ein politischer Kongreß gestaltet und Abstimmungen vorbereitet werden.

Mit Ausnahme des früheren Ministerpräsidenten Mendės-Franceist es ihnen jedoch nicht gegeben, eine Mystik der Sozialreform zu erzeugen oder der jungen Generation große Ziele zu bieten. Ihre Art des politischen Handelns erscheint verstaubt, der heimlich gepflegte Antiklerika- lismus ist durch die mutige Erneuerung der Kirche überwunden, und sie bleiben, was sie sind: Politiker von 50 und 60 Jahren, die eher in die Vergangenheit als in die Zukunft blicken. So ist es ihnen auch niemals richtig gelungen, Nachwuchsorganisationen aufzubauen oder die Masse der Jungarbeiter und Jungbauern anzusprechen, die bereit sind, neue Programme zu prüfen und auch anzunehmen.

Das gaullistische Regime hat alles unternommen, um die Gegensätze schärfstens zu akzentuieren und zwei Blöcke zu schaffen. Kultusminister Malraux erklärte als ein Nahziel der Innenpolitik, daß lediglich Kommunisten und Gaullisten einander gegenüberstünden.

Wie gefährlich die Vereinfachung der politischen Geographie Frankreichs ist, erwies sich in diesen Tagen. Seit dem Bestehen der III. Republik wurde Frankreich bis zum Mai 1958 immer wieder und ausschließlich von der Mitte regiert, wobei einmal die Betonung auf Links und dann wieder auf Rechts lag. Seit dem Sturz der IV. Republik zerfiel das Zentrum immer stärker. Die einst mächtige christlich-demokratische Partei MRP löste sich einfach in nichts auf. Obwohl sie wirklich in der Lage gewesen wäre, ein echtes Programm einer Sozialreform aus christlicher Sicht vorzulegen, weigerte sie sich entschieden, jüngere Persönlichkeiten der öffentlichen Meinung vorzustellen und diese auch entsprechend aufzubauen. Darüber hinaus vergaß das MRP, seine Doktrin auszuarbeiten und den Erfordernissen einer modernen Industriegesellschaft anzupassen. Auch die französischen christlichen Demokraten scheinen sehr glücklich zu sein, daß die Zeit ideologischer Auseinandersetzungen vorüber sei. Damit hat die Partei eine Todsünde begangen. Denn die Studenten, Jungarbeiter und Jungbauern, die in den Straßenschlachten des Monats Mai ihre Berechtigung erkämpften, in Staat und Gesellschaft mitzusprechen, suchen eben die Meister des Denkens, die geistigen Auseinandersetzungen und die ideologischen Spannungen. Nachdem ihnen die demokratischen Parteien diese Nahrung direkt verweigert haben, wenden sie sich falschen Propheten und anarchistischen Gauklern zu.

Mut für neue Ufer

Wenn eine Lehre aus dieser gewaltigen Bewegung Frankreichs zu ziehen ist, lautet diese kurzgefaßt: Der demokratische Sozialismus möge nicht von den Errungenschaften sprechen, die er im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert der Arbeiterklasse zukommen ließ. Diese Kämpfe gehören der Geschichte an und können als Thema für eine

Doktorarbeit verwendet werden. Nachdem viele Jugendliche im Sozialismus den einzigen Ausweg aus der Not dieser Gesellschaft suchen, werden die sozialistischen Parteien gut beraten sein, wenn sie die Formen der Industriegesellschaft neu durchdenken und einen echten sozialistischen Humanismus finden. Dasselbe gilt für die sogenannten bürgerlichen Parteien. Wie sonderbar! In der harten Prüfung Frankreichs kamen jene Kräfte wieder an die Macht, welche die gaullistische Technokratie übersehen hatte, nämlich die christliche Demokratie und der linke Gaullismus. Wer soll die Spannungen auf der sozialen Ebene und in den Universitäten lösen? Der neue Sozialminister Maurice Schumann, früher Präsident des MRP, und die langjährige christlich-demokratische Abgeordnete Mademoiselle Marie- Madeleine Dienesch, Staatssekretär im Unterrichtsministerium, sowie der kompromißlose Vorkämpfer einer umfassenden Sozialreform, Professor Capitant. Der neue Justizminister bewies am Höhepunkt der Krise besonderen Mannesmut, da er, mit dem Kurs der Regierung unzufrieden, sein Abgeordnetenmandat zurücklegte.

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