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Europa 2020: Renaissance oder Dead Man Walking?

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Die Europäische Union steht vor dem Herausbrechen des Vereinigten Königreichs. Sie kann daraus einen Neubeginn machen – oder erstarren. Aussichten eines Experten.

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Die Europäische Union steht vor dem Herausbrechen des Vereinigten Königreichs. Sie kann daraus einen Neubeginn machen – oder erstarren. Aussichten eines Experten.

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Zweitausendneunzehn war ein turbulentes Jahr für die Europäische Union. Mehrere Regierungen haben sich gegen Grundprinzipien des Integrationsprozesses gestellt, die in Artikel 2 des EU-Vertrags festgehalten sind: „Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören.“ Polen und Ungarn haben diese Werte soweit gefährdet, dass ein Verfahren gegen sie nach Artikel 7 eingeleitet wurde, weil „die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der in Artikel 2 genannten Werte durch einen Mitgliedstaat besteht“.

Das ist einzigartig in der Geschichte der Union. Für Turbulenzen sorgte neben Polen und Ungarn auch der italienische Ex-Innenminister Matteo Salvini mit seiner restriktiven Anti-Immigrationspolitik und seinem Plan, die anti-europäischen Kräfte von Rechtsaußen im EU-Parlament zu einer starken Fraktion zusammenzuführen.

Britisches Hin und Her

Der Brexit hat das Jahr 2019 für Europa nicht leichter gemacht. Das schier unendliche Hin und Her birgt weiterhin große Risiken. Man fühlt sich bisweilen an Shakespeare’sche Dramen und Komödien zugleich erinnert. Die Beziehungen zu den USA und Russland haben sich nicht gebessert. In der Asylpolitik scheitert Europa kläglich an seinen humanitären Pflichten und verfehlt menschenrechtliche Mindeststandards. Neben all diesen in ihrer Dimension neuen Herausforderungen für die EU kam es zu überraschenden Wahlen in verschiedenen Mitgliedstaaten. Unerwartete Regierungswechsel oder Neuwahlen wie in Italien, Spanien, dem Vereinigten Königreich oder Österreich setzten die Turbulenzen fort. 2019 reiht sich somit nahtlos in die Reihe schwieriger Vorjahre ein, in denen das Krisenmanagement mehr schlecht als recht gelang und von Aufbruchsstimmung keine Rede sein konnte. Manchen mag die EU in den letzten Jahren als Dead Man Walking erscheinen.

Und doch gab es erste Anzeichen einer Trendwende. So ist die Zustimmung der Bevölkerung laut Eurobarometer-Umfragen so gut wie lange nicht, und die neue Kommissionspräsidentin hat mit ihrem Vorhaben eines Green New Deals gewisse Hoffnungen auf einen entschlosseneren Kampf gegen die Klimakrise genährt. Das ist ein Anfang, mit dem man ins Jahr 2020 starten kann.

Ob die neue Dekade für Europa besser verläuft als die letzte, hängt von vielen einzelnen Policy-Entscheidungen, aber mehr noch von der Debatte über größere Ideen ab. Der Brexit sollte 2020 rasch über die Bühne gebracht werden. Frankreichs Präsident Emmanuel ­Macron hat bei aller berechtigten Kritik erkannt, dass eine Vertiefung und Demokratisierung der Union mit den Briten nicht zu machen ist und durch neue Erweiterungen verzögert und erschwert wird. Aber genau darum geht es: um Vertiefung und Demokratisierung. Das zögerliche Kleinklein, für das Angela Merkels Europapolitik steht, muss überwunden werden, ansonsten werden anti-europäische Parteien weiter zulegen und das Gesamtkonstrukt gefährden. Es sollte ein Vorteil sein, dass mit Ursula von der Leyen eine deutsche CDU-Politikerin an der Spitze der Kommission steht. Sie könnte gegenüber den Bremsern in der eigenen Partei einen gewissen Druck aufbauen.

In Klimafragen wird ihr das allerdings leichter gelingen als in Fragen der Strukturreform des europäischen Einigungswerks. Macron hatte vor der EU-Wahl davon gesprochen, dass Europa als „seelenloser Markt“ wahrgenommen werde und es einen Neubeginn brauche. Damit traf er einen wichtigen Punkt: Die Entfremdung zwischen EU-Politik und Bürgerinnen und Bürgern, die Notwendigkeit einer Demokratisierung. Daran sollte ab 2020 ernsthaft gearbeitet werden.

Dass er inzwischen deutlich öfter die von ihm ebenfalls forcierte Verteidigungsunion betont, ist zwar bedauerlich, aber der Faden, den er mit dem Wort „Neubeginn“ bzw. dem im Originalton viel pathetischeren „Renaissance“ gesponnen hat, könnte von der Kommissionspräsidentin locker wieder aufgegriffen werden.

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