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Europa wiüilLdie Hintertür

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Wir haben uns daran gewöhnt, Europa nur in wirtschaftlichen Kategorien zu denken. Meldungen bezüglich der Einführung der europäischen Währung, aber auch über die Gegner des EURO beherrschen die Medienlandschaft, der Rinderwahnsinn wird von den Gegnern der EU als Argument gegen sie verwendet, wenngleich nichts anders wäre, wenn es die europäische Einigung nicht gäbe - nur die Engländer könnten auf weniger Solidarität zählen. Die hohe Arbeitslosenrate in den entwickelten Staaten Europas wird ebenso der Einigung in die Schuhe geschoben und gleichzeitig verlangt, daß Brüssel dazu die fertigen Lösungen anbietet, die den nationalen Regierangen nicht einfallen. Ist das Europa?

Von der Geschichte her ist die Priorität des Ökonomischen ganz selbstverständlich. Kohle und Stahl haben sechs

europäische Länder zusammengeführt, wobei es gerade da nicht die Wirtschaft, sondern ein Friedenskonzept gewesen ist, das den Römer Verträgen Pate gestanden hat. Den Konflikt zwischen Frankreich und Deutschland wollte man aufheben und für alle Zukunft verunmöglichen, denn immerhin hat er Europa Jahrhunderte beherrscht und zwei blutige Weltkriege zum Inhalt gehabt. Der nächste Schritt der europäischen Einigung - das Vordringen in den Bereich von Wissenschaft und Technologie - hat allerdings handfeste wirtschaftliche Gründe gehabt, nämlich die befürchtete Eurosklerose, daß der alte Kontinent mit Amerika und Japan nicht mehr Schritt halten kann. Der europäische Wirtschaftsraum diente der Heranführung der skandinavischen Staaten und der Neutralen wie Schweiz und Osterreich an den gemeinsamen Markt - also wieder wirtschaftliche Überlegungen. Der Maastricht-Vertrag aber hat die Schiene des Ökonomischen längst verlassen. Seine Zielrichtungen hießen innere und äußere Sicherheitspolitik, deren Fehlen Europa bislang handlungsunfähig gemacht hatte, wie der Balkankonflikt gezeigt hat.

Spätestens ab da muß allen klar sein, daß die europäische Einigung nicht nur aus Wirtschaft besteht, sondern ganz andere Anliegen zum Ziel hat. Wenn sich nun die EU daran schickt, in einem Weißbuch zur Bildung die Frage zu beantworten, was allen europäischen Bürgern in Hinkunft gemeinsam sein soll, wird klar, daß sich Europa wieder auf seine gemeinsamen geistig-kulturellen Grundlagen besinnen muß. Was Europa geworden ist, wurde es durch das Wirken des jüdisch-christlichen Denkens, der Antike hinsichtlich Philosophie * und Rechtsentwicklung und schließlich durch die Aufklärung. Damit liegen unverwechselbare Ideen vor, die viel eher die Unterscheidung der Geister ermöglichen, als es etwa geographische Abgrenzungen zulassen.

Offensichtlich ist es aber leichter, die notwendige Einigung über die Wirtschaft zu verkaufen. Statt mutig den Bürgern Europas zu sagen, daß es eine gemeinsame Begie-rung und ein gemeinsames Parlament, bei aller Vielfalt aber auch ein gemeinsames Denken braucht, wählt man die Hintertür der gemeinsamen Währung, um die politi-sche.und damit auf Dauer auch die geistig-kulturelle Union zu erzielen. Bei einiger Einsicht in die Entwicklung muß wohl jeder sehen, daß Europa nur gemeinsam bestehen kann, wenn es nicht wieder - wie vor 1989/90 durch den Eisernen Vorhang - einerseits ein Anhängsel einer großen Macht jenseits des Atlantik, andererseits ein Satellitensystem des

großen russischen Beiches sein will. Offensichtlich aber ist uns die Aussicht verstellt. Sonst wäre nicht die Unterhaltung über die notwendige Erweiterung der EU nach Osten und Süden ein schwieriges Unterfangen.

Egoismen aller Art werden sichtbar, Vorurteile werden wiederentdeckt, die schon in der Vergangenheit nicht nützlich gewesen sind. Mich wundert, daß das auch in Österreich möglich ist. Will man auf Dauer Östgrenze der EU bleiben? Hat man nicht verstanden, daß uns die Absperrung zu unseren nördlichen, östlichen und südlichen Nachbarn durch den Ei-

sernen Vorhäng tote Grenzen beschert hat und jene Verbindung unterbrochen hat, die sehr viel dazu beigetragen hat, kulturell und wirtschaftlich, geistig und sozial unser Österreich zu dem zu machen, was es für viele in Europa ist: ein Land in der Mitte Europas, das nicht nur geopolitisch an einem interessanten Punkt liegt, sondern dem Kontinent auch geistig-kulturell viel geboten hat.

Die Europäische Union kann ihren Namen mit Becht nicht mehr tragen, wenn sie es zuläßt, etwa den großen slawischen Baum Europas von der Einigung auszuschließen. Polen und Tschechen, Ungarn und Slowenen sind genauso Europäer wie wir. Wenn uns nicht die Stabilisierung dieses

Teils Europas gelingt, wird uns weiter die Unsicherheit begleiten, die die letzten Jahre gekennzeichnet hat. Bedarfes einer stärkeren imperialistischen Politik Bußlands, die sich abzeichnet, um uns wieder durch Druck von außen Kraft und Schwung zur Einigung zu geben? Aber auch das könnte nicht ersetzen, was Europa dringend braucht - eine Besinnung auf einen gemeinsamen Wertekanon. Menschenrechte und Demokratie, Freiheit und Toleranz, Respekt vor dem anderen sind genauso wichtig wie die Universalität des Denkens und die geistlichen und säkularen Traditionen.

Über „Radio Free Europe" haben wir unseren Nachbarn eingeredet, doch ihren Mut zusammenzunehmen, um das Joch der Diktatur abzuschütteln und Demokratien zu werden. Christen, haben sich zusammengefunden, um Kreuzzüge und Bittprozessionen zu machen, damit in unserer Nachbarschaft wieder Freiheit herrscht. Jetzt haben wir Freiheit und Freizügigkeit und wollen sie nicht. Wenn Arbeitsplätze über die Grenze abwandern, betrachten wir das als eine Attacke auf unseren Wohlstand und vergessen ganz, daß auch wir nach dem Krieg davon profitiert haben, ein Land mit niedriger Lohnquote und damit ein günstiger Wirtschaftsstandort zu sein.

Wien rühmt sich der Zeit um 1900 und vergißt, daß die großartigen Literaten und Architekten, Musiker, Arzte und Philosophen alle aus der Mitte Europas von den heutigen Nachbarn gekommen sind. Or-

te des Tourismus vermarkten wir, die großartigen Leistungen der Vergangenheit, wir nehmen aber nur zahlende, reiche Gäste, nicht aber jene Nachbarn, die mit uns an den großartigen Leistungen des Donauraumes gearbeitet haben.

Eigentlich zum Genieren, aber dazu ist heute wohl kaum jemand mehr bereit. Die Regierung folgt ihren Bürgern; sie hat sich merklich von der Nachbarschaftspolitik zurückgezogen, Gelder für wissenschaftliche Kontakte und Lektoren zur Heranführung der Jugend in der Nachbarschaft an unser Bildungsniveau werden reduziert, das Interesse der Medien ist erstorben. Wenige gibt es, die nach wie vor ihr Engagement zeigen.

Hoffentlich werden es nicht wieder einmal dann zuwenig Gerechte sein, wenn wir erkennen, daß wir einen großen Fehler gemacht haben. Die Einheit Europas ist das größere Problem als all die Fragen, die uns gerade beherrschen. Da geht ein Sparpaket um, das offensichtlich das österreichische Hirn und Herz erfaßt hat.

Der Autor ist

Vizekanzler a. D., Versitzender des Institutes für den Donauraum & Mitteleuropa und gibt das „Wiener Journal" heraus.

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