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Europas heikelste Frage

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Wenn das Volk in glücklichen Tagen dahinlebt. Von der Erde sich nährend, die weit und breit sich auftut. Und die erwünschten Gaben In Jahren und Monden erneuert. Da geht alles von selbst und jeder ist sich der Klügste.

Aber zerrüttet die Not die gewöhnlichen Wege des Lebens, Reißt das Gebäude nieder und wühlet Garten und Saat um. Treibt den Mann und das Weib vom traulichen Raum der Wohnung, Schleppt in die Irre sie fort durch ängstliche Tage und Nächte, Ach, da sieht man sich um, wer wohl der verständigste Mann sei. Und er redet nicht mehr die warnenden Worte vergebensl

Goethe: Hermann und Dorothea“

Frankreichs Außenminister Georges Bidault gab im April bei einem englisch-amerikanischen Pressebankett in Paris eine Erklärung über das deutsche Problem ab, die in ihrer die Tiefen des Fragenkomplexes berührenden Fassung festgehalten zu werden verdient. „Deutschland“, so führte der französische Staatsmann aus, „nimmt in Europa und in der Welt eine Schlüsselstellung ein. Oft befürchte ' ich, daß unsere Flahung in dieser Frage nicht von allen Ländern verstanden wird. Wir Franzosen anerkennen sehr wohl die Wichtigkeit der wirtschaftlichen Probleme. Aber wir sind der Meinung, ein Abkommen über Deutschland bedeutet ein Abkommen über alle Probleme der Welt. Das deutsche Volk hat alle Talente, nur nicht die Gabe, den Standpunkt anderer Völker zu verstehen. Wenn es uns nicht gelingt, um den schwarzen Fleck, den Deutschland darstellt, eine internationale Solidarität zu schaffen, so wird es uns hinsichtlich keiner anderen Frage gelingen. Wenn ein' Abkommen über Deutschland nicht erreicht werden kann, so kann über keine andere Frage ein Abkommen erreicht werden.“ Einen Tag später schrieb die „Times“ zur französischen Forderung nach völliger Abtrennung des Ruhrgebietes und des Rheinlandes, daß England wohl Verständnis für die französischen Sicherheitswünsche habe, mit* der Abtrennung der Westprovinzen würde aber die öffentliche Meinung in Deutschland durch radikale Einflüsse aller Art verschärft werden. Gleichzeitig trat das führende englische Organ dafür ein, daß ein entwaffnetes Deutschland die Möglichkeit erhalte, sich in die friedliche Zusammenarbeit des internationalen Lebens einzugliedern, wobei die „Times“ hervorhob, daß diese Zusammenarbeit vor allem auf wirtschaftlicher Grundlage beruhen müsse. Sehr interessant war in diesem Zusammenhang der Satz, auch Holland und Belgien begännen bereits einzusehen, daß die Sicherung der wirtschaftlichen Zukunft Deutschlands von ausschlaggebender Bedeutung für die großen Häfen Antwerpen und Rotterdam sei.

Diese beiden Stellungnahmen zur deutschen Frage erscheinen uns symptomatisch; stellen sie doch gewissermaßen die Pole der Möglichkeiten dar, die deutsche Frage zu betrachten, die seit hundert Jahren, seit dem Zusammenbruch des friedenerhaltenden Gleichgewichtszustandes des Metternichschen Zeitalters, die Welt beunruhigt. Deutschland stellt die Welt vor ein eminent politisches Problem, das alle großen Mächte berührt und von dessen Lösung es wohl abhängt, ob es eine schöpferische internationale Ordnung und ein gesundes Gleichgewicht der großen Mächte geben wird. Deutschland stellt aber auch ein hervorragendes weltwirtschaftliches Problem dar, von dessen gesunder Lösung vielleicht noch mehr für die Zukunft Europas abhängt. Frankreichs Interesse zielt mehr auf

eine Bereinigung der politischen Fragen ab, die Deutschland den Mächten und sich selbst stellt, England rechnet, seinen Traditionen gemäß, mehr mit den wirtschaftlichen Notwendigkeiten. Dies würde weiter nicht schlimm sein, wenn nicht die Politik und die Wirtschaft scheinbar eine gerade entgegengesetzte Behandlung der deutschen Frage verlangten. Einen zentralistisch-militaristischen deutschen Machtstaat darf es im Interesse aller Völker nicht mehr geben, darüber ist wohl eine Diskussion nicht nötig und dies werden auch alle vernünftigen Deutschen begreifen. Aber wohl wäre es sinnlos und eine Gefährdung einer jeden gesunden Entwicklung, wollte man Deutschland als wirtschaftliche und als kulturelle Gegebenheit, die Existenz des deutschen Volkes als des Volkes der europäischen Mitte, bestreiten oder auslöschen, wollte man das Vakuum, das infolge der maßlosen und verantwortungslosen Politik des Nationalsozialismus im Herzen Europas entstanden ist, noch vergrößern, die chaotische Situation Deutschlands noch vertiefen. Es fragt sich also, ob es einen Mittelweg gibt, der sowohl den Sicherheitsbedürfnissen Europas als auch den Geboten der wirtschaftlichen Vernunft entgegenkommt und Europa eine Klärung dieses heikelsten Fragenkomplexes erhoffen läßt. Wir wollen uns nicht anmaßen den Schlüssel zu haben, mit dem sich alle Rätsel auflösen lassen, die Deutschland seit Generationen der Welt aufgegeben hat, dennoch glauben wir aber, die wir in Österreich durch unsere Geschichte gezwungen waren, uns besonders mit der deutschen Frage zu befassen, und die wir unsere,staatliche Unabhängigkeit schwer erkämpfen mußten, ein gewisses Empfinden für die Imponderabilien der deutschen Mitte Europas zu haben, die man vielleicht in West und Ost nicht so leicht zu erkennen vermag.

Preußen ist tot und es heißt, man solle Tote ruhen lassen. Dennoch wird man nicht um die Feststellung herumkommen, daß es gerade die preußisch - deutsche Entwicklung war, die Europa in das Chaos eines zweiten dreißigjährigen Krieges gestürzt hat.

Die preußische Vorherrschaft bedeutete die erst allmähliche, dann immer hemmungslosere Zentralisierung und Militarisierung der Kräfte der deutschen Nation, die Verkrustung der lockeren Föderation des deutschen Bundes zu einem Machtstaat mit offensiven Möglichkeiten. Diesen Machtstaat wird und kann die Welt nie mehr dulden. Aber welches sind nun die Möglichkeiten der Mächte, das Emporkommen eines neuen deutschen Imperialismus zu verhindern, das Entstehen einer deutschen Gefahr zu bannen? Durch eine demokratische Umerziehung des deutschen Volkes, wird man antworten. Gut, aber wie soll diese Erziehung vor sich gehen? Wie will man den Geist eines neuen deutschen Nationalismus an seinem Wadistum verhindern, welche Chancen will man den deutschen Mensdien geben, damit sie den „Hitler in ihnen selbst“, den Dämon zu bannen vermögen, der nur zu leicht durch ein Versehen der kommenden neuen Friedensordnung wieder zum großen Verführer werden könnte. Es ist schon sehr fraglich, ob das Vertreiben von vielen Millionen Mensdien aus ihren Heimatgebieten, die durch sie zu europäischen Kulturlandschaften wurden, die Zusammenballung um Hab und Gut gebrachter Millionenmassen in einem Gebiet, das schon vorher zu den dichtbesiedelten Europas gehörte, der Entwicklung einer demokratischen Gesinnung besonders förderlich sein kann. Aber selbst wenn man die Völkerwanderung des Jahres 1945 gewissermaßen noch als einen letzten Kriegsäkt ansehen wollte, soll nun die Abtrennung der Westprovinzen diesen Prozeß der Zusammenballung noch verstärken, um Restdeutschland zu einem überfüllten Kessel werden zu lassen, in dem von neuem ein hemmungsloser Nationalismus entsteht? Es isu doch äußerst charakteristisch, daß die kommunistische Partei in Ostdeutschland als die Verfechterin eines zentralistisch eingestellten deutschen Nationalismus auftritt, der oft geradezu wie eine Neuauflage nationalsozialistischer Tendenzen anmutet.. Lord Van-sittart, einer der schärfsten und herbsten,

aber auch klügsten Kritiker Deutschland, hat im Oberhaus auf die Gefahren hingewiesen, die Europa aus einem linksradikalen deutschen Nationalismus erwachsen könnten. Aber wie könnte diesen Gefahren begegnet werden? Gibt es überhaupt einen Weg, um aus der deutsdien Quadratur des Zirkels herauszukommen? Lord Vansittart hat ein Zauberwort ausgesprodien, das zumindest eine Möglichkeit andeutet, wie Deutschland ' in die Zusammenarbeit der europäischen Völker eingeordnet werden könnte. Dieses Zauberwort, das Vansittart nicht erfunden hat — schon lange vor ihm haben die besten Deutschen immer wieder darauf hingewiesen, als einer der ersten der große Constantin Frantz, Bismarcks publizistisdier Gegner, in unseren Tagen der in der Schweiz lehrende Wilhelm Röpke —, wir wiederholen, die Formel, die Vansittart nicht erfunden hat, die aber dadurch besonderes Gewicht erhält, daß dieser bedeutende britische Staatsmann sich zu ihr bekannt hat, heißt: Föderalisierung Deutschlands, staatliche Auflockerung, die über eine Dezentralisation im verwaltungsmäßigen Sinne hinausgeht. Österreich, das seine unter Opfern errungene staatliche Unabhängigkeit in alle Zukunft bewahren will, gleichgültig, welche innere Gestaltung seine Nachbarn, zu denen auch Deutschland zählt, aufweisen, könnte eine Einordnung Deutschlands in das gesamteuropäische Gefüge nur begrüßen, wie immer sie im einzelnen aussehen mag.

Es gibt verschiedene Anzeichen dafür, daß im deutschen Volke breite Schichten sich nach

einer schöpferischen Mitarbeit am, Neubau der zerstörten Völkerordnung sehnen. Der Arbeitswille der deutschen Menschen, die besonnene Haltung der SPD, das grandiose Bekenntnis zu einer konservativen Demokratie, das bei den jüngst stattgefundenen Wahlen im amerikanisdi besetzten Süddeutschland abgelegt wurde, all dies spricht dafür, daß es möglich sein wird, schließlich doch zu einer Zusammenarbeit aller europäischen Nationen zu kommen, allen Schwierigkeiten zum Trotze das geistige und wirtschaftlidie Potential Deutschlands zu einem Faktor der Sicherheit und nicht mehr der Unsicherheit und Bedrohung werden zu lassen. Viel spricht dafür, daß die Deutschen zu überzeugen sein werden, daß ein großes Volk seine Würde nicht gerade im Waffentragen und in einem ungeistigen Militarismus zu sehen braucht. Vielleicht kommt dann doch auch der Tag, da ein so geistvolles Volk wie das französisdie die Idee der Sicherheit weniger mechanisch auffaßt, denn als eine Aufgabe, den ehemaligen Feind innerlich zu gewinnen und ihm bei dem Prozeß seiner geistigen und politischen Auflockerung zu helfen. Wie sagte doch Bidault in seiner Bankettrede: „Das deutsche Volk hat alle Talente, nur nicht die Gabe, den Standpunkt anderer Völker zu verstehen.“ Wäre es nicht eine großartige Aufgabe der siegreichen Nationen, auch dieses Talent im deutsdien Volk zu wecken, für dessen tragischen Lebensrhythmus Grillparzer in seiner „Libussa“ die erschütternde Formel prägte: ,iBlind, wenn es handelt, tatlos, wenn es denkt“?

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