Wachsender Druck

Europas Zukunft und Herkunft

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Das Europa-Buch des österreichischen Historikers Michael Gehler bietet sich gerade am Beginn einer neuen und schwierigen Phase der Europäischen Union zur Orientierung und Vergewisserung an.

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Das Europa-Buch des österreichischen Historikers Michael Gehler bietet sich gerade am Beginn einer neuen und schwierigen Phase der Europäischen Union zur Orientierung und Vergewisserung an.

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Mit den Wahlen zum Europäischen Parlament Ende Mai hat wieder eine fünfjährige Periode der EU-Institutionen begonnen, deren Eingangsphase allerdings bis zur endgültigen Besetzung der Kommission erst nach etwa einem halben Jahr abgeschlossen ist. Zur besseren Orientierung bietet sich ein gewichtiges Kompendium Michael Gehlers an, das in einer überarbeiteten und aktualisierten Auflage mit dem schlichten Titel „Europa“ vorliegt. Damit erhebt der Autor, der seit Jahren als exzellenter Kenner der Materie gelten kann, natürlich einen umfassenden Anspruch. Diesem wird der Geschichtsprofessor, früher in Innsbruck, nunmehr in Hildesheim, auf – einschließlich Anhang – 1300 Seiten durchaus gerecht. Wenn auch die Europäische Union das zentrale Thema dieses Werks ist, so bezieht der Autor die Geschichte des gesam­ten Kontinents und selbst weltpolitische Zusammenhänge mit ein.

Diese ausführliche, aber dennoch gut lesbare Darstellung wird in den ersten beiden Kapiteln (immerhin 200 Seiten) mit Ideen zu Europa von der Antike bis zum Zweiten Weltkrieg eingeleitet. Der Zeit danach werden weitere 700 Seiten gewidmet. Gehler erwartet jedoch nicht von seinen Lesern, dass sie das Buch „an einem Stück“ lesen, sondern die einzelnen Abschnitte können auch für sich stehen.

Ex-Maoist Barroso

Überaus hilfreich sind das Glossar, die Chronologie und die Diagramme. Beim Bildmaterial besticht die Fülle von Karikaturen, die sich in dieser Vielfalt wohl kaum in anderen Übersichtswerken finden lässt. Man gewinnt den Eindruck, der Autor schöpft aus einer ungeheuren Materialkenntnis. Diese Zeichnungen stammen überdies aus vielen verschiedenen Ländern. Ein begnadeter Meister seiner Zunft war David Low, ursprünglich aus Neuseeland stammend, aber dann Jahrzehnte in Großbritannien tätig. Er nahm die Diktatoren Hitler, Mussolini und Stalin, aber auch die Appeasementpolitik seines nunmehrigen Heimatlands aufs Korn. Gehler verwendet von ihm unter anderem eine Karikatur aus dem Februar 1938, in der die Österreich repräsentierende Person starkem deutschen Druck ausgesetzt erscheint. Die vom Karikaturisten kritisierte Haltung ist wohl am besten zu charakterisieren mit: „Warum sollen wir eingreifen gegen einen, der andere wegdrückt – so weit weg von uns?“ (s. Illustration).

Der Aufbau des Kompendiums erlaubt dem Leser, selbst zu entscheiden, wie detailliert er den Zugang zur europäischen Integration wählen möchte. Lässt man sich auf eine genaue Lektüre ein, wird man mit äußerst interessanten, aber wenig bekannten Fakten belohnt. So erfährt man, dass José Manuel Barroso (Kommissionspräsident 2004 bis 2014), der dieses Amt als Vertreter der Europäischen Volkspartei erlangte, in seiner Jugend einer maoistischen Gruppierung angehörte.

Darstellungen der EU laufen häufig Gefahr, dass Mittelost- und Osteuropa zu kurz kommen. Dem steuert Gehler bereits in seinen ersten Kapiteln mit einer Würdigung der Bedeutung des Wiener Kongresses und der Länder der Habsburger Monarchie, aber auch der Paneuropa-Ideen Richard Coudenhove-Kalergis gegen.
Mit der Vorgeschichte und den ersten Jahren der EWG lässt sich natürlich ein Westeuropa-Schwerpunkt nicht vermeiden, aber die Freiheitsbestrebungen in der DDR, in Ungarn, der Tschechoslowakei und Polen sowie die Rolle des KSZE-Prozesses haben ebenfalls Platz in dem Werk. Den damit verbundenen Ost-West-Konflikt mit seinen ideologischen Gegensätzen sieht Gehler als konstitutiv für die Entstehung und Entwicklung der westeuropäischen Integration an.

Das Jahr 1989 wird in all seinen Facetten abgehandelt. Den anschließenden Einigungsprozess betrachtet Gehler durchaus kritisch – er weist auf Rückschläge und negative Folgen hin. Der Rolle der NATO oder auch den Beziehungen zu den USA wird breiter Raum gewidmet. Hier sieht der Autor vertane Chancen, etwa in der Zeit Barack Obamas, nachdem die Periode George W. Bushs von Konfrontation gekennzeichnet war.

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