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Ein österreichisches Ferienlager nimmt im Sommer die Kinder von Sahraui-Flüchtlingen auf. Reportage über den Wert des Regens, die Bitterkeit des Lebens und die Süße der Liebe.

Isa liebt den Regen. An Österreich findet sie fast alles toll. Aber am besten gefällt ihr das Wetter, vor allem, wenn es im Sommer kühl und feucht ist. Isa Hamdi gehört zu einer Gruppe von zehn Kindern aus der Westsahara, die schon den dritten Sommer in Österreich verbringen. Wenn sie von den Dingen erzählt, die ihr gefallen, beginnen die melancholischen Augen zu glänzen. Isa gehört zu den zwei ältesten Kindern der Gruppe. Ihr kastanienbraunes Haar hängt leicht gewellt über die Schultern. Auf ihren Handrücken verblassen die mit Henna aufgemalten schnörkeligen Ornamente.

Wo Isa herkommt, ist es jetzt unerträglich heiß und trocken: in den Lagern westlich der algerischen Stadt Tindouf, mitten in der Sahara. Dort leben seit über 30 Jahren die Flüchtlinge aus der einstigen spanischen Kolonie Westsahara, die von Marokko besetzt ist. Das Lager 27. Februar und das Ferienheim der Kinderfreunde im niederösterreichischen Brunn am Gebirge trennen nicht nur mehr als 5000 Kilometer Luftlinie. Für die zwölfjährige Isa war der erste Urlaub in Österreich wie ein Besuch in einer anderen Welt: Zum ersten Mal bestieg sie ein Flugzeug, zum ersten Mal reiste sie mit Eisenbahn und Schiff, zum ersten Mal verließ sie ihre gewohnte Umgebung von Beduinenzelten und Lehmhäusern, Sand, Kamelen und Datteln. "Die Menschen in den Flüchtlingslagern leben anders als ihr hier“, sagt sie: "Wir haben oft Sandstürme“. Alle Kinder erzählen von den bis dahin unbekannten Tieren, die sie gesehen haben: Rehe, Hasen, Schweine. Asphaltierte Straßen, mehrstöckige Häuser, Flüsse, grüne Berge - alles löste anfangs Staunen aus. Jetzt ist Isa neugierig geworden auf die Welt. Wenn sie die Schule hinter sich hat, will sie Deutsch lernen und Lehrerin werden.

Isa ist am Beginn einer sommerlichen Reise durch Österreich. Nach zwei Wochen in Brunn am Gebirge geht es nach Leiben bei Melk. Dort wird die Gruppe von der SPÖ-Frauenorganisation betreut. Dann geht es nach Heidenreichstein im Waldviertel, eine Woche nach Gars am Kamp, eine Woche auf Einladung eines ehemaligen EU-Parlamentariers ins Kärntner Feistritz und am Ende zehn Tage in Wien in ein Freizeitzentrum der Nationalbank. Das sind die Ferien von der Wüste.

Geschichte einer Flucht

Jedes Jahr in den Sommerferien werden Tausende Kinder aus der Westsahara nach Europa verschickt. Die meisten gehen nach Spanien, viele auch nach Italien und Frankreich. Dort werden sie von Gastfamilien aufgenommen. In Österreich findet eine relativ kleine Gruppe von zehn Kindern Aufnahme. Nur hier bleibt die Gruppe während des ganzen Aufenthalts von fast zwei Monaten zusammen. "Weil wir’s sprachlich nicht anders leisten können“, erklärt die Theaterpädagogin Brigitte Tauchner-Hafenscher von der Österreichisch-Sahrauischen Gesellschaft, die als Betreuerin während der ersten zwei Wochen dabei ist. Als Dolmetscherin und Ersatzmama fungiert die 41-jährige Hassina Selma Mohammed, die vor bald 20 Jahren in Oberwart als Kindergärtnerin ausgebildet wurde und später noch eine Zusatzausbildung zur Turnlehrerin bekam. Sie leitet jetzt einen Kindergarten in einem Lager.

Als Hassina im März 1971 geboren wurde, da kämpfte ihr Land noch um die Unabhängigkeit gegen die spanische Kolonialmacht. Bald nach dem Tod von Diktator Francisco Franco im November 1975 zogen die spanischen Soldaten ab und erlaubten es der marokkanischen Armee, in das militärische Vakuum vorzudringen. "Ich musste mit meiner Mutter und Großmutter flüchten“, erzählt Hassina, die ihren Vater nie kennengelernt hat. Er lebt jetzt mit einer anderen Frau und zwölf Kindern in El-Ayoun, der Hauptstadt der marokkanischen besetzten Westsahara. Die Flüchtlinge fanden Aufnahme in Algerien, wo sie in Lagern von der UNO betreut werden und auf den Tag warten, da sie in eine unabhängige Republik Westsahara zurückkehren können. Die Unabhängigkeitsbewegung Polisario, die 15 Jahre in einem Guerillakrieg die Marokkaner aus dem Land zu werfen versuchte, akzeptierte 1991 einen Waffenstillstand. Marokko versprach damals ein Referendum zuzulassen, in dem die legitimen Bewohner des besetzten Gebietes sich zwischen völliger Unabhängigkeit und beschränkter Autonomie im marokkanischen Staatsverband entscheiden können. Mehr als 20 Jahre wurden die Bemühungen um den Volksentscheid von Marokko torpediert. Der König und die Armee wollen, dass auch ein Großteil jener Marokkaner abstimmen darf, die im Zuge einer aggressiven Zuwanderungspolitik in den "Südprovinzen“ angesiedelt wurden.

Medizinische Behandlungen

Die Kinder kommen fast ohne Gepäck. Wenn sie ankommen, werden sie eingekleidet, bekommen Rucksäcke und Reisetaschen und werden der Reihe nach durchuntersucht. "Im Laufe der Zeit haben sich so viele Kooperationen ergeben, dass das alles nichts kostet“, freut sich Tauchner-Hafenscher, die als Betreuerin dabei ist: "Immer wieder kommen Leute auf uns zu und wollen den Kindern was schenken oder sie einladen.“ Im Krankenhaus Baden wird den Kindern Blut abgenommen, wenn nötig werden Röntgenaufnahmen gemacht.

Eine Zahnärztin in Breitenfurt bietet gratis Zahnservice an. Mouloud Saleh hat eine Plombe bekommen. Sidi Mohammed hat den linken Arm in Gips. "Gebrochen“, erklärt er in akzentfreiem Deutsch. Er ist beim Klettern vom Eisentor gefallen. Zwei Wochen darf er jetzt nicht schwimmen. Das schmerzt ihn. Alle Kinder lernen beim ersten Aufenthalt schwimmen und Rad fahren. "Und sie entwickeln mit der Zeit ein Gefühl für die Sprache“, sagt Brigitte Tauchner-Hafenscher. Sidi kann bis zehn zählen und kennt die Farben. "Wie heißt du?“, will er wissen, "Ich heiße Sidi“.

Auch der österreichische Besucher lernt. Hassina Selma Mohammed begrüßt den Gast mit einer Teezeremonie. Während die Kinder draußen dem Fußball hinterhertoben, gießt sie Wasser in eine Teekanne, legt reichlich Zucker nach und dekantiert dann immer wieder den heißen Tee in kleine Gläser und zurück. Wenn er fertig ist, hat er eine kleine Schaumkrone. Dieses Ritual wird nicht nur zelebriert, wenn Besucher im Beduinenzelt empfangen werden. Es gehört zum Frühstück, zum Mittagessen und zur Jause, wie der Buckel zum Kamel. Durch die Verdünnung im Laufe des Tages und die ständige Zufuhr von Zucker verändert der Tee seinen Geschmack. Der erste, so heißt es, sei "bitter wie das Leben“, der zweite "süß wie die Liebe“ und der letzte, "sanft wie der Tod“.

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