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Feuerzeichen über Nordafrika

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Paris, im August

Die Diskussion über den Wert der Verträge von Genf war in Frankreich kaum beendet, als neue Gefahren aus Nordafrika den von der öffentlichen Meinung so heißersehnten Frieden zu stören begannen.

Denn Tunis wie Marokko sind gefährliche Brandherde geworden. Sollten sich die Ereignisse von Indochina wiederholen und stehen endlose Kriege bevor, welche die Lebenskraft des Landes verzehren? In Tunis stoßen immer wieder bewaffnete Banden von Feilachen aus der Weite der Wüste gegen die europäischen Siedlungen vor, während in Marokko die Sturmzeichen eines Bürgerkriegs drohen und die alte Feindschaft zwischen den Bewohnern der Küste und den Berberstämmen des Hochlandes neu aufflackert. Damit hat in Nordafrika eine Auseinandersetzung begonnen, die sich besonders in ständigen Terrorakten manifestiert. Sicherlich ist das tunesische Problem das vordringliche. Alle bisherigen militärischen Aktionen, selbst französischer Elitetruppen in Tunis, versagten bisher gegenüber einem Gegner, der nach vorsichtiger Schätzung über nicht mehr als 8C0 bis 1000 Mann verfügt, der sich jedoch der Freundschaft, ja Unterstützung vieler einheimischer Kräfte rühmt und über Basen und Ausbildungslager, im benachbarten Libyen disponieren kann. Schließlich weiß er sich der Hilfe fast aller arabischen Staaten sicher.

Die bisherige Bilanz dieser Auseinandersetzung beläuft sich in vier Monaten auf 130 Attentate, welche 43 Europäern und 52 Tunesiern das Leben kosteten, ohne von den vier len hunderten Verwundeten zu sprechen. Man kann jedoch sicher sein, daß .diese Zahlen von der Wirklichkeit noch übertroffen werden. Es ist dies ein Krieg im Dunkeln, der die Nerven zerstört. Die Bewohner, einsamer Gehöfte können nur noch unter dem Schutz der Panzer die Ernte, .einbringen. Geheimgesellschaften der Araber und Europäer bekämpfen einander jenseits der staatlichen Ordnung und drohen ein Chaos zu erzeugen, in dem die großartige Aufbauarbeit, Frankreichs seit dem Vertrag von Bardo (12. Mai 1881) zu versinken scheint.

Zwei weltpolitische Momente vor allem sind zur Erklärung der tunesischen Frage hcranzuziehen: die Räumung des Suezkanals und die Haltung der Vereinigten Staaten, die großen Wert auf die Emanzipierung der arabischen Staaten legen, um so die Verteidigung von Nah- und Mittelost zu sichern. Aber auch eine der Maximen der englischen Außenpolitik spielt in das Problem hinein, nämlich die ständige Freundschaft mit den islamischen Völkern. Die arabischen Staaten selbst benützen Tunis und Marokko, um von den eigenen sozialen Spannungen abzulenken.

Für Frankreich erwuchs das tunesische Problem aus der Sphäre interner Verwaltungsfragen. Die marokkanischen und tunesischen Angelegenheiten waren bisher dem Quai d’Orsay unterstellt worden, die Kompetenzen wurden dadurch schlecht abgegrenzt, und die Einwirkung der Pariser Regierungsstellen auf mittlere und untere Verwaltungsstellen in Nordafrika war nach Aussagen einer so bedeutenden Persönlichkeit wie Robert Schuman ungenügend, ja fehlte fast vollständig. Schon Robert Schuman in seiner Eigenschaft als Außenminister mußte sich mit dieser Tatsache auseinandersetzen und vertrat die Meinung, daß nur eine „Home-Rule“ Tunis und Marokko der Französischen Union erhalten werde. Ein Plan der Reform verlangte jedoch, daß sich zwei Partner finden, die repräsentativ für die Völker sprechen konnten. Die bisherigen französischen Regierungen waren oft nur zu kurz im Amt, um das Gespräch einzuleiten, während die autochthonen Repräsentanten entweder ein zu feudales Konzept vertraten, als Einzelgänger zu betrachten waren oder die vernünftige Aussprache durch die gewaltsame Auseinandersetzung ersetzen wollten.

Trotz der anfänglichen Popularität der derzeitigen Regierungschefs wird seine Tunis-: Politik nicht von seiner absoluten Mehrheit geteilt. Nichts ist dafür bezeichnender als die Auseinandersetzung, die er darüber mit seinem Parteikollegen, dem früheren Innenminister MartJneaud-Deplat, im Parlament hatte. Sehen wir von den Kommunisten ab, die für die vollkommene Autonomie auch in außenpolitischer Hinsicht sind, um aus der feudalen Ordnung die soziale Revolution vorzubereiten, so sind es besonders die Ex-Gaullisten, die in Tunis allein die Politik der Stärke vertreten möchten. Ein ausgezeichneter Schachzug von Mendės-France war es, Marschall Juin so von seiner Konzeption zu überzeugen, daß jener bereit war, den Ministerpräsidenten in seiner delikaten Mission nach Tunis zu begleiten. Wenn man weiß, welchen Einfluß Juin auf das Französische Nordafrika ausübt und welches Prestige er in der Armee verkörpert, so kann man in der Bekehrung des früheren Prokonsuls in Marokko ein Zeichen dafür sehen, daß sich auch die konservativen Kreise Frankreichs der tragischen Situation in Nordafrika bewußt werden und ehrlich bemüht sind, einen Ausgleich der Vernunft herzustellen. Starke Gegensätze zu dieser Regierungspolitik machen sich auch auf den Bänken der Unabhängigen bemerkbar, die ja nur zögernd und oft feindlich das Experiment Mendės-France beobachten. Daß die eigene Partei des Regierungschefs von Reform-Projekten nicht entzückt ist, mag nur zu verständlich sein. Die meisten Franzosen in Tunis wie in Marokko sind entweder radikal-sozialistisch oder gaullistisch eingestellt. Diese Kreise fürchten, daß ihre eigenen politischen, kulturellen wie wirtschaftlichen Interessen hintangesetzt werden. Den Sozialisten entspricht im wesentlichen, das vorgelegte Programm, und einer der hauptsächlichsten Gründe, warum die SFIO seit Jahren an der Regierung nicht teilnimmt, war. neben den wirtschaftlichen Divergenzen eine ihrer Ansicht nach zu konservative Nordafrikapolitik. Die MRP kann ebenfalls voll und ganz einen französisch-tunesischen Dialog unterstützen. Der Parteikongreß der Volksrepublikaner verlangte bereits 1953 für Tunis die interne Autonomie, ein Standpunkt, der auch 1954 bestätigt wurde. Nach Meinung der Christlichen Demokraten sei diese Politik allein fähig, eine wirkliche Entspannung herbeizuführen und den Terror zu beenden.

Da sich Mendės-France auf der rechten Seite seiner Position verlassen fühlte, mußte er notwendigerweise eine Anlehnung an das MRP in die Wege leiten, und die letzte Abstimmung im Parlament beweist, daß die Mehrheit der Volksrepublikaner in dieser Frage zum erstenmal seit der Investitur die Regierung unterstützt. Wie weit diese Annäherung zwischen dem Regierungschef und ciem MRP geht, ist noch nicht abzusehen, da ein persönlicher Antagonismus Mendės- France—Bidault besteht, der nicht so bald aus der Welt geschafft werden kann.

Wenn wir auf französischer Seite Anhänger und Gegner der Reformen in Tunis am Werke sehen, so gilt es in gleicher Weise vom arabischen Gesprächspartner. Der Bei scheint den Willen zu besitzen, eine Verständigung mit Frankreich herbeizuführen. Nach wie vor wird er als Inkarnation der tunesischen Aspirationen angesehen, welche mit und um ihn die Autonomie verwirklicht sehen wollen. Aber wie so oft an orientalischen Fürstenhöfen, ist die Umgebung des Monarchen und die Familie von mindest ebenso großer Bedeutung w'ie die Persönlichkeit des Herrschers, der oft nur in passiver Weise die Gegensätze auszugleichen versteht. Der eigentliche politische Sprecher Tunesiens ist ohne Zweifel der Chef der großen politischen Partei Neo-Destour, Bourg Iba. Durch den französischen Hochkommissar aus dem Lande entfernt, zuerst auf eine Insel verbannt, genießt er derzeit fast vollständige Freiheit in Frankreich und leitet von seinem Exil aus die Verhandlungen mit der französischen Regierung, der Umgebung des Bei und seinen politischen Freunden. Der Neo-Destour unterscheidet sich von der ursprünglichen alten Nationalen Partei, welche sich der Alte Destour nennt, durch eine betont laizistische Haltung. Das Wort „Destour“ bedeutet übrigens „Verfassung“, womit das Ziel der Partei am besten umschrieben ist. Der Destour w’ill in erster Linie eine Nationalversammlung, welche aus allgemeinen Wahlen hervorgegangen ist. Die gemäßigten nationalistischen Kreise in Tunis streben nach voller Souveränität, gedenken jedoch im Rahmen der Französischen Union zu bleiben. Die extremen Vertreter wollen jedoch diese Autonomie nur benützen, um daraus die vorletzte Etappe für die vollständige Unabhängigkeit und Loslösung zu schaffen.

Mendės-France hat durch einen neuen psychologischen Schock die tunesische Frage aus dem Rahmen der Diskussion und des Terrors herausgehoben, um nicht ein neues Drama ab- -ollen zu lassen. Die Rückwirkungen eines vernünftigen Ausgleiches in Tunis würden ungeahnte Ausstrahlungen auf Marokko aus üben. D französische Regierung schlug die Uebergabe der internen Souveränität an tunesische Persönlichkeiten und Institutionen vor. Eine repräsentative tunesische Regierung, in der alle politischen Kräfte des Landes vertreten wären, solle in Form von Konventionen die Verpflichtungen der beiden Regierungen festlegen und ein spezielles Statut für die Europäer in Tunis ausarbeiten. Aber Frankreich ließ auch keinen Zweifel darüber, daß es entschlossen sei, unter Einsatz aller Machtmittel die Ordnung wiederherzustellen. Dieser Wille wurde durch die Ernennung des

Generals Boyer de la Tour als Resident und Entsendung starker militärischer Kräfte unterstrichen.

Die so wichtigen Positionen Frankreichs in Nordafrika sind die Garantie für den Fortbestand als Groß-, ja als Weltmacht. Darüber hinaus sind sie eine Hoffnung auf die Verwirklichung des europäisch-afrikanischen Wirtschaftsraumes, der ein Grundgedanke des Schuman-Planes war. Eine der ältesten Kulturlandschaften der Welt, das westliche Mittelmeer, kann sowohl ein Wetterwünkel der Weltpolitik werden, Keimzelle blutiger Re-

gionaJkriege, die sich jederzeit generalisieren lassen, oder das Musterbeispiel verständiger, kultureller und wirtschaftlicher Zusammenarbeit verschiedener Rassen und Religionen. Noch sind die Würfel nicht endgültig gefallen, aber es war hoch an der Zeit, eine Politik der Verständigung anzubahnen. Jedes weitere Zögern oder die Berücksichtigung eines Gruppenegoismus, der das Gesamtwohl der europäischen oder islamitischen Bevölkerung verdunkelt, ist ein Ruf an die Dämonen, die, wenn sie losgelassen, weder Grenze noch Maß kennen.

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