Calais - © Foto: Getty Images / In pictures / Andrew Aitchison

Flüchtlingsdrama vor Calais: Von Besserung keine Spur

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Einen Monat nach der Schlauchboot-Katastrophe vor Calais: Das Flüchtlingsdrama am Ärmelkanal ist aus dem Fokus verschwunden. Dabei verdichtet sich dort die Krise zu einem immer drastischeren Szenario. Ein Lokalaugenschein.

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Einen Monat nach der Schlauchboot-Katastrophe vor Calais: Das Flüchtlingsdrama am Ärmelkanal ist aus dem Fokus verschwunden. Dabei verdichtet sich dort die Krise zu einem immer drastischeren Szenario. Ein Lokalaugenschein.

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Schwimmen? Mahmoud* schüttelt den Kopf. Weder er noch die acht anderen Syrer, die unschlüssig um ihn herumstehen, wissen, wie das geht. 20 ist der jüngste, 50 der älteste. Dass sie trotzdem per Schlauchboot hinüber nach England wollen, steht für sie außer Frage. Mahmoud, der Anfang 20 ist und dessen Gesicht in seinem dicken Schal versinkt, hat es schon drei Mal probiert, doch immer kam die französische Polizei, als das Boot gerade in See stechen wollte.

Aktuell aber haben Mahmoud und seine Freunde ein anderes Problem: Soeben hat die Gendarmerie sie von ihrem aktuellen Schlafplatz vertrieben, versteckt hinter einigen Büschen auf halbem Weg zwischen der Stadt und dem Hafen. Plastikplanen und Schlafsäcke liegen nun auf dem nassen, blassrot gestrichenen Bordstein. Am Himmel kündigt sich der nächste Schauer an. Mahmoud kriecht noch tiefer in seine graue Jacke und stellt eine der Fragen, die zum Alltag jener gehören, die von hier aus klandestin über den Kanal wollen: „Wo sollen wir jetzt hin?“

Nach der Katastrophe

Der Alltag ist schnell wieder eingekehrt, zumindest gemessen daran, dass sich Ende November die Dinge überschlugen. Das Sinken eines vollbesetzten Migrantenboots vor der Küste, 27 Passagiere, darunter eine Schwangere, die in der eisigen See ertranken, führte zu wüsten Beschuldigungen zwischen London und Paris. Priti Patel, die britische Innenministerin, wurde sogar von einem Krisen-Treffen zwischen Nachbar-Ländern und EU-Vertretern in Calais ausgeladen. Dort beschloss man, dass ein Frontex-Flugzeug künftig den Kanal überwachen soll. Ziel: den Schmugglerbanden das Handwerk legen.

Ein weniger prominenter Punkt der EU-Agenda sind die Lebensbedingungen der rund 1500 Menschen aus Sudan und Eritrea, Iran und Irak, Ägypten, Äthiopien, Syrien oder Afghanistan, bevor sie an Bord immer überfüllterer Schlauchboote gehen. Etwa, dass die Präfektur lokalen NGOs seit Herbst 2020 untersagt, Nahrung und Wasser zu verteilen. Oder dass jeden zweiten Tag vier dunkelblaue Gendarmerie-Busse die Orte abklappern, an denen Geflüchtete ihr Lager aufschlagen. Wenn diese Pech haben, werden Zelte und Schlafsäcke konfisziert oder zerstört. Andernfalls müssen sie ihre Behausungen vorübergehend entfernen, nur um sie wenig später zurückzustellen.

Die Überfahrten sind in den ersten Wochen nach der Katastrophe durch Sturm und Regen fast zum Erliegen gekommen. Die weißen Busse der „Compagnies Républicaines de Sécurité“ sind nachts trotzdem auf Achse. Sie stehen am Hafen von Calais, am Strand des Nachbardorfs BlériotPlage, oder mit einem Scheinwerfer oben in den Dünen bei Sangatte, wo mehrfach Leichen von Migranten gefunden wurden. Sie fahren die Straße nach Südwesten ab, durch die kaum besiedelte Gegend Richtung der beiden Kaps Gris-Nez und BlancNez. Steht man nachts an einem der verlassenen Strände, vor sich das Weißwasser der Uferwellen und sehr weit dahinter im Dunkeln die Positionslichter großer Schiffe, erschaudert man bei dem Gedanken, auf einem vollbesetzten Schlauchboot dort hineinzufahren.

Ein anderer Strand, rund 40 Kilometer nördlich. Plage du Braek liegt auf einer Landzunge zwischen Dunkerque und dem Fähranleger. Dahinter ragen Schornsteine und Hafen-Kräne in den Himmel. Der Wind tost oben auf dem befahrbaren Deich, der Strand selbst liegt geschützt. Irgendwo halb im Sand begraben: ein rosa-grauer Damen-Turnschuh. Braek ist einer der Orte, wo im Schutz der Nacht Boote in Richtung England ablegen.

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