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Friede für das Mittelmeer!

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Auffallend still ist es nach der jüngsten Weltkatastrophe um eine Freiheit geworden, die noch unter den vierzehn Punkten Wilsons eine geräuschvolle Rolle gespielt hatte: die Freiheit der Meere. Betrachten die Mächte, die sich damals um sie so besorgt zeigten, sie etwa nicht mehr als bedroht? Hat sie mittlerweile an Bedeutung verloren, weil sie als völkerrechtliches Prinzip eine solche nur für Mächte besaß, die während eines Krieges die Vorteile der Neutralität genießen wollten und weil es solche Mächte und solche Kriege nicht mehr gibt? Oder wagt man es in einem Zeitalter, in dem sogar die Freiheit der Luft nur den stärkeren fliegenden Festungen zustatten kommt, und nach einem Kriege, in dem so oft der Luftraum über neutralen Ländern von den Flugzeuggeschwadern kriegführender Mächte durchflogen wurde, nicht mehr, von der Freiheit der Meere zu sprechen? Genug, mehr als ein Jahr war seit der Einstellung der Feindseligkeiten dahingegangen, und niemandem fiel es ein, nach einem neuen Regime für die Schiffahrt auf den Meeren zu fragen, als kürzlich von der russischen Regierung ein Problem aufgeworfen wurde, das seit langem zum eisernen Bestand des Völkerrechts gehört: das Dardanellenproblem. Die Ünzweideutigkeit der russischen Forderungen überraschten weniger als ihre unmittelbare Anknüpfung an alte Auffassungen, die ein für gänzlich überwunden gehaltenes Zeitalter Rußlands — etwa zur Zeit des Krirn-krieges oder der Pontuskonferenz — mochte gehegt haben. Modernes Kampfflugzeug und Atombombe dürfte doch, so hatte man gemeint, den Dardanellen manches von der strategischen Wichtigkeit genommen haben, die sie einmal besaßen.

Und dann ist das Schwarze Meer doch nur ein Teil des Mittelmeeres. Die Situation, die sich aus der Enge der Dardanellen ergibt, wiederholt sich ja an der Straße von Gibraltar und am Suezkanal. Es gibt im Mittelmeer einige Staaten, die sich als Gefangene in einem geschlossenen Meere noch mit mehr Recht betrachten können als Rußland, das den offenen Ausgang nach der Ostsee besitzt. Zur Zeit des Konfliktes des faschistischen Italiens und Großbritanniens sagte man in Rom, was für die Briten nur ein Weg (via) sei, sei für die Italiener das Leben (vita). Diese Unterscheidung will vielleicht auch Rußland in weiterer Folge seines jüngsten Schrittes geltend machen. Die Sonderstellung der Anrainerstaaten des Schwarzen Meeres zum Problem der Dardanellen wird vom Weißen Hause ausdrücklich anerkannt, indem es diesen Staaten in seiner Antwort auf die russischen Forderungen auch für ihre Kriegsschiffe das uneingeschränkte Recht der Durchfahrt zuspricht. Geschichtlich vollkommen neu ist in dieser amerikanischen Note der Standpunkt, daß das Dardanellenproblem alle Staaten der Welt angehe und daß diese Meerenge im Falle eines Angriffes auf die türkischen Positionen unter den Schutz der Vereinten Nationen gestellt werden soll. An allen bisherigen internationalen Abmachungen, welche die Dardanellen betrafen — Londoner Dardanellenvertrag von 1841, Pariser Vertrag von 1856, Beschlüsse der Pontuskonferenz von 1871, Vertrag von Lausanne 1923 und Abkommen von Montreux 1936 —, waren immer nur die an den Verhältnissen im Mittelmeer unmittelbar interessierten europäischen Mächte einschließlich der Türkei beteiligt. ' Die Dardanellenerklärung des Weißen Hauses vom 21. August 1946, die außerdem durch das Ersdieinen einer amerikanischen Flotte im Mittelmeer unterstützt wird, bedeutet eine historische Wende in der amerikanisdien Außenpolitik, indem sie das Prinzip der Monroedoktrin für die Solidarität der Vereinten Nationen in jeder Konfliktssphäre verläßt, ohne Rücksicht auf den geographischen Bereich. Das kann vom Standpunkt des allgemeinen Friedens nicht genug begrüßt werden.

Den unterschiedlichen Dardanellenstatuten, die sich über ein Jahrhundert erstrecken, war die Tendenz gemeinsam, die Meerengen für den Kriegsfall zu neutralisieren, so lange natürlich' die Türkei selbst nicht als kriegführende Macht erscheinen würde. Das Völkerrecht des 19. Jahrhunderts war überhaupt durch die Bemühung gekennzeichnet, den. Begriff der Neutralität auszubilden und seine Anwendung zu erweitern, womit die Möglichkeit der Lokalisierung eines Krieges vergrößert werden sollte. Lange Zeit hindurch war dieser völkerrechtliche Begriff angelsädisischem Denken besonders geläufig. Er wurde erst gegen das Ende des Krieges von 1914/18 — vor allem unter dem Einfluß Wilsons '— durch die Völkerbund-tdeologie und den Gedanken einer universellen Solidarität gegen jeden Angreifer verdrängt. Dieser neuen Richtung hat der Kelloggpakt den schärfsten Ausdruck verliehen. Wenn dieses klaren und konsequenten Paktes während des zweiten Weltkrieges kaum mefir Erwähnung geschah, so muß es andererseits wundernehmen, daß gleichzeitig auch der Begriff der Neutralität von maßgebenden Stellen wiederholt als abgetan und nicht mehr anwendbar auf moderne interkontinentale Kriege bezeichnet wurde, in denen um Grundsätze gerungen wird, die alle Völker in gleicher Weise betreffen. Diese Auffassung ist durch den Verlauf des Krieges keineswegs bestätigt worden. Vor allem wurde die Neutralität der Schweiz von beiden Seiten geachtet. Aber auch Schweden und die Türkei konnten unter Verhältnissen, die gerade für diese beiden Staaten ungewöhnlich schwierig waren, und schließlich auch Spanien ihre Neutralität aufrechterhalten. Wären diese Staaten auch in den Konflikt hineingerissen worden, so hätten die Verheerungen noch ein unendlich größeres Ausmaß angenommen und manche Bewahrungen nicht stattfinden können. Der nationalsozialistischen Diktatur, die Dänemark, Norwegen, Holland und Belgien 'n einer dem primitivsten Volkerre.it hohnsprechenden Weise brutalisierte, steht gewiß an dieser neutralen Reserve kein Verdienst zu. Wäre Deutschland in der Lage Rußlands gewesen, hätte es sich ohne Zweifel von einem blitzartigen Oberfall auf Schweden und die Türkei nicht abhalten lassen. Die korrekte Haltung, welche die Sowjetunion Schweden und der Türkei gegenüber im Kriege bewahrt hat, darf nidit vergessen werden, wenn man in Hinkunft die Teilnahme Rußlands an internationalen Abmachungen zu bewerten haben wird, namentlich an solchen, die sich wieder auf dem alten Begriff der Neutralität aufbauen sollten.

Was nun die Dardanellen betrifft, so steht für die Russen allerdings den auch ihnen zukommenden Vorteilen einer auf Neutralisierung abgestellten Ordnung der schon unter den Zaren immer wieder leidenschaftlich verfolgte Wunsch Rußlands nach freier Verfügungsgewalt über die Meerengen und dem uneingeschränkten Austritt in das offene Meer gegenüber. Nur Voreingenommenheit könnte diesem Wunsche jedes Verständnis verweigern. ' Die jüngste Note Moskaus an die türkische Regierung gibt jenem Wunsche in der Form Ausdruck, daß eine gemeinsame Verteidigung der Dardanellen, also ihre Verteidigung durch Rußland u n d die Türkei, gefordert wird. Dieser Vorschlag findet in London und Washington eindeutige Ablehnung, wengleich sowohl die britische wie die amerikanische Regierung der russischen in dem Punkte zustimmen, daß die Konvention von Montreux einer Revision unterworfen werden müsse. Niemand wird annehmen wollen, daß die beiden Westmächte, deren hohe Auffassungen von den moralischen Grundlagen internationaler Beziehungen und den Voraussetzungen eines dauernden Friedens der Welt bekannt sind, sich zu dieser Haltung durch machtpolitische Erwägungen oder großkapitalistische Interessen bestimmen ließen, die ihre Stellung im Mittelmeer betreffen. Die amerikanische Erklärung, daß das Problem der Meerengen alle Nationen der Welt angehe, ist wohl in dem Sinne zu verstehen, daß die ganze gesittete Welt an dem Schicksal des Mittelmeeres “teilnimmt, von dem alles ausgegangen ist, was wir unter dem Worte „Abendländische Kultur“ zusammenfassen: Griechentum, Römertum und Christentum. Nachdem dieses uns Europäern heilige Meer seit den Tagen von Trafalgar größeren Konflikten fast ausnahmslos entzogen war (der Krimkrieg blieb ja auf einen kleinen Teil des Schwarzen Meeres beschränkt) und es auch unter dem ersten Weltkrieg kaum in nennenswerter Weise zu leiden hatte, entlud sich das Gewitter des zweiten Weltkrieges zeitweise mit furchtbarer Gewalt über die Uferländer und Inseln dieser See, und es ist nur Zufällen zu verdanken, daß dabei nicht mehr Kulturstätten und Kunstdenkmäler unersetzlichen Wertes zerstört worden sind. Nun, seit dem Kriegsende, ist das Mittelmeer zu einer der ernstesten Gefahrenzonen geworden. Der italienisch-jugoslawische Gegensatz in der nördlichen Adria, ein bürgerkriegähnlicher Zustand in Griechenland, der Judenaufstand in Palästina und die Gärung unter den Arabern schaffen zusammen mit dem Dardanellenproblem, dem amerikanisdien Ultimatum an Jugoslawien und den demonstrativen amerikanischenglischen Flottenmanövern eine Spannung so schwerwiegender Natur, daß unter diesen weiteren Aspekten die Frage, ob und in welchem Sinne die Konvention von Montreux zu revidieren wäre, nebensächlich erscheint. Das Dardanellenproblem verschwindet unter dem weitaus größeren Mittelmeerproblem.

Sollte nun nicht die einzige völkerrechtliche Methode, die sich bei Behandlung des Dardanellenproblems während eines vollen Jahrhunderts als nützlich und unheilverhütend erwiesen hat — die Neutralisierung —, auch auf das Problem des ganzen Mittelmeers anwendbar sein? Hat sich dieses Meer, über das die Argonauten nach Kolchis, die Fürsten Griechenlands nach Troja, Cäsar und Augustus nach Ägypten und die Kreuzfahrer nach dem gelobten Lande zogen, an dessen Ufern Homer und Dante dichteten, Plato und-- Paulus lehrten, Phidias und Michelangelo unsterbliche Werke schufen, ist dieses Meer der Menschheit nicht genug teuer geworden, daß es durch einen, übereinstimmenden Beschluß der großen Mädite nicht ein- für allemal den Verwüstungen moderner Kriege entzogen werden sollte?

In Zeiten, wie es diese sind, in denen wir leben, können nur mehr kühne Gedanken die Menschheit vom Abgrund zurückreißen.

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