Früchte des Zorns

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Ungarns Regierung verfolgt eine rigide Flüchtlingspolitik. Helfer werden kriminalisiert und angefeindet. Nur wenige bleiben davon unbeeindruckt.

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Ungarns Regierung verfolgt eine rigide Flüchtlingspolitik. Helfer werden kriminalisiert und angefeindet. Nur wenige bleiben davon unbeeindruckt.

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Das Dorf O csény im Süden Ungarns nahe Szekszárd ist einer der Orte, durch die man durchfährt, ohne sich je wieder daran zu erinnern. In dem Dorf gibt es knapp 2500 Einwohner, eine reformierte und eine katholische Kirche, ein Schulgebäude, eine Apotheke und einen Supermarkt. Einstöckige Häuser säumen die Straßen, die so heißen wie in jeder ungarischen Kleinstadt, benannt nach den Helden der ungarischen Geschichte: Kossuth, Széchenyi, Peto fi, Deák.

In einer Seitenstraße gleich gegenüber vom Schulgebäude liegt die Pension von Zoltán Fenyvesi. Ein metallener Hahn wacht an der Eingangstür über einer massiven Glocke, alte Bauerngeräte zieren den Garten, der sich um das gelbgestrichene Gebäude windet. Eine ungarische Dorfidylle, die im Herbst 2017 in ihren Grundfesten erschüttert wurde.

Zoltán Fenyvesi, ein Mann in seinen frühen 60ern mit randloser Brille und angegrautem Bart, spricht ruhig und gewählt. Über seine Brille zieht sich eine hohe Stirn. "Nie habe ich mir vorstellen können, wohin das alles führt", erinnert er sich an seine Entscheidung zurück, die den Frieden im Dorf mit einem Schlag zerstörte. Fenyvesi lebt seit zehn Jahren in O csény und betreibt dort seine Pension. Die vier Zimmer bieten Platz für bis zu 14 Personen. Von Beginn an hat er benachteiligten Kindern, etwa aus Roma-Familien, hier eine kurze, kostenfreie Ferienzeit ermöglicht. Nie hat es jemanden gestört. Nichts anderes hatte er im Sinn, als er im Herbst vergangenen Jahres sechs bis sieben Flüchtlingskinder samt Betreuungspersonen in seine Pension eingeladen hatte.

"Viktor", der Beschützer

Als sich das herumsprach, machte sich bei einem Teil der Bevölkerung allerdings Panik breit, eine Bürgerversammlung wurde einberufen, an deren Ende der Bürgermeister resigniert zurücktrat. "Sie dachten wohl: Erst kommen Frauen und Kinder und dann holen sie ihre Familien nach und alle Frauen im Dorf werden vergewaltigt", erzählt der gläubige Christ Fenyvesi. Ihm selbst hätten die Menschen leidgetan: "Wer in Not ist, dem muss man helfen, vor allem Kindern und Frauen, so einfach ist das."

Doch es gab Menschen in O csény, die sahen das anders. Fenyvesi wurde in seiner Stammkneipe angepöbelt und bedroht. "Einer sagte mir ins Gesicht, dass er mich umlegen wird", erzählt er. Eines Nachts kamen sie. Fenyvesi hat nicht bemerkt, wie viele es waren, die gegen Mitternacht auf sein Grundstück eindrangen, ein Messer in die Reifen seines Transit-Transporters und eines weiteren Fahrzeugs auf dem Hof jagten und beide mit Tritten traktierten. Bevor er sie stellen konnte, waren sie wieder verschwunden.

Nur ein Täter, ein Lkw-Fahrer aus dem Ort, wurde wegen Sachbeschädigung angeklagt. Von dem Angebot, die Flüchtlinge bei sich zu beherbergen, ist er schließlich zurückgetreten -doch nicht aus Angst um sich, wie er betont. "Was wäre das für ein Urlaub gewesen? Mit Polizeischutz? Manche Leute wären zu allem fähig gewesen."

Die ungarischen Regionalmedien wie die unweit von O csény in der Komitatshauptstadt Szekszárd erscheinende Tolnai Népújság (Tolnaer Volkszeitung) geben nahezu ungefiltert den Standpunkt der Regierung wieder: Migration sei gefährlich und eine Bedrohung für Europa und Ungarn. "Es gibt hier zwei Kneipen und in denen geht die Lokalzeitung von Hand zu Hand", erzählt Pensionsbetreiber Zoltán Fenyvesi. "Gesprächsthema Nummer 1 ist die Gefahr, die durch die Migration ausgeht. Und am Ende gibt es nur einen, der uns davor schützt: Der Viktor." Auf die Ereignisse von O csény angesprochen, äußerte besagter Viktor, Ungarns rechtskonservativer Ministerpräsident Viktor Orbán, Journalisten gegenüber Verständnis für die Vorbehalte der Bevölkerung, "die entschieden, hörbar und verständlich ihre Meinung geäußert hat". Die ungarische Bevölkerung hätte so viele Lügen über Migranten gehört und könne daher nicht sicher sein, ob die Aktion auf einige wenige Frauen und Kinder beschränkt bleiben würde.

Als er von dieser Reaktion des Ministerpräsidenten hörte, war bei Tivadar Filotás das Maß voll.

"Hört auf mit den Hasskampagnen!"

Tivadar Filotás verfügt über einen mächtigen Körperumfang. Ein Leinenhemd in Übergröße umhüllt seinen Oberkörper. Der 73-Jährige ist Gründer des Puppenmuseums in Tihány am Balaton. Gewundene Straßen führen den Hügel hoch, wo sich das Museum in die pittoreske Hügellandschaft schmiegt. An den Wänden seines Büros hängen Fotos seiner Ahnen.

Aus Filotás' Familie stammen hochrangige Persönlichkeiten aus Militär, Sport und Gesellschaft. 1956, nach dem gescheiterten Volksaufstand, flüchtete der damals Elfjährige mit seinen beiden Geschwistern nach Österreich. Filotás verbrachte seine Kindheits-und Jugendjahre in Innsbruck und Bayern, machte sich später in München erfolgreich mit einem Handwerksunternehmen selbstständig und siedelte Anfang der 90er-Jahre wieder nach Ungarn über. Die Puppensammlung geht auf eine Leidenschaft seiner deutschen Frau zurück.

Als er von O csény und der Reaktion des Ministerpräsidenten hörte, wandte er sich in einem Brief an das liberale Nachrichtenportal hvg.hu an die Öffentlichkeit und bot an, die Frauen und Kinder in seiner Gästeunterkunft zu beherbergen. Filotás nahm mit Entsetzen wahr, wie die monatelange Propaganda Früchte getragen hatte und anerkannte Flüchtlinge nicht akzeptiert wurden.

Derzeit leben etwa 215.000 Ausländer in Ungarn, davon 3000 anerkannte oder geduldete Flüchtlinge, hauptsächlich Afghanen, Syrer und Iraner. Von denen leben 90 Prozent in Budapest. "Diese Flüchtlinge durch Propaganda als Kriminelle hinzustellen, ist einfach nur widerlich", entrüstet er sich.

Tivadar Filotás beließ es aber nicht ausschließlich bei seiner Einladung. Während die Regierung im Wahlkampf mit großflächigen Plakaten Stimmung gegen Flüchtlinge machte, setzte Filotás sein eigenes Zeichen. Wochenlang zierten von ihm selbst hergestellte Schilder den Zaun seines Museums und schossen gegen die Regierung: "Hört auf mit den Hasskampagnen!""Euch ist es gelungen, Ungarns Ruf in der Welt zu verspielen.""Verfälscht nicht unsere Geschichte!"

Zsolt Bayer, der führende regierungsfreundliche Publizist Ungarns, der bei der Opposition als Hetzer verschrien ist, beschimpfte Filotás aufs Schärfste und attestierte ihm, nicht mehr Verstand zu besitzen als seine Puppen. "Manche grüßen nicht mehr oder schauen betreten, wenn sie mir auf der Straße begegnen, aber respektiert werde ich auf jeden Fall", blickt Filotás auf seine Aktion zurück. Flüchtlinge sind jedoch bis heute nicht bei ihm gewesen.

"Es wird immer schwieriger, Familien für so einen Urlaub zu finden, denn die meisten sind zu sehr damit beschäftigt, über die Runden zu kommen", sagt András Siewert, Chef von Migration Aid. Die NGO hat den geplanten Urlaub der Flüchtlingskinder in O csény organisiert, wollte ihnen nach den monatelangen Strapazen der Flucht und des schwierigen Neuanfangs eine kurze Zeit der Erholung ermöglichen. Das Büro der Organisation liegt unweit des Budapester Stadtwäldchens. Ein Klingelschild gibt es nicht. "Es sind hier schon einige dunkle Gestalten im Treppenhaus gewesen, die nach uns gefragt haben", so Siewert.

Vergiftete Stimmung

In der Wohnung türmen sich auf deckenhohen Regalen Hilfsgüter für Flüchtlinge. Kleider, Spielzeug, Nahrungsmittel. Dem Vermieter ist es egal was sie machen, solange sie die Miete zahlen. Über die gegenwärtige Lage in Ungarn macht er sich keine Illusionen. "Die Stimmung ist deutlich vergifteter, als man denkt", sagt er. Über die Berichterstattung der ungarischen Medien habe er irgendwann nur noch lachen können, "aber die Leute haben das geglaubt". Die Organisation hält sich mit Privatspenden über Wasser, die Regierung kann sich in ihre Arbeit nicht einmischen. Aber sie kann sie erschweren.

Mitte Juni hat das ungarische Parlament mit überwältigender Mehrheit das Gesetzespaket "Stop Soros" gebilligt. Es sieht verschiedene Strafen vor, darunter 18 Monate Gefängnis für Personen, die die illegale Einwanderung begünstigen. Eine am selben Tag verabschiedete Änderung des Grundgesetzes verbietet zudem die "Ansiedlung von Ausländern" in Ungarn.

Wenn András Siewert sich die Migrationspolitik in Europa und Ungarn anschaut, so kommt er schnell zu einem eindeutigen Urteil: "Große Scheiße!" Natürlich, gibt er zu, nage die Propaganda auch an den Unterstützern. "Aber wenn niemand nichts macht, was ist dann?"

RegIeRung ORbÁn

Flüchtlingspolitik

Als Ungarn 2015 einen Grenzzaun bauen ließ, machte sich das Kabinett Orbán zur Speerspitze europäischer Migrationsgegner. In den folgenden Jahren wurde die Gesetzeslage zunehmend verschärft.

Grundrechte

Grundrechte wie Forschungs-, Versammlungs-und Pressefreiheit geraten unter der Orbán-Administration unter Druck. Schon 2010 wurde etwa ein äußerst restriktives Mediengesetz verabschiedet.

Gewaltenteilung

2011 setzte Orbán im beschleunigten Verfahren eine Verfassungsreform durch. Der Verfassungsgerichtshof, wesentlich für die Kontrolle der Gewaltenteilung in einer Demokratie, darf Verfassungsgesetze seither nur noch formal, nicht mehr inhaltlich prüfen.

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