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Für Stabilität von Vancouver bis Wladiwostok

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Bei der jüngsten Leipziger Buchmesse diskutierten der ehemalige deutsche Außenminister Hans Dietrich Genscher, Polens früherer Wien-Botschafter und ExAußenminister Wladyslaw Bartosze-wski sowie Joseph Rovan unter Leitung Wolfgang Kraus' über die Zukunft Europas. Bartoszewski plädierte dafür, „nicht zu einer regionalen, sondern zu einer gesamteuropäischen Ordnung" zu kommen. Seine lebendigen und bildhaften Schilderungen vom polnischen Widerstandsgeist zu Zeiten der Nazi-Besatzung in Warschau, vom Entstehen der Untergrundpresse und des konspirativen Verlagswesens bezeugen, daß aufgezwungene Verbote Menschen stimulieren und zu großen kulturellen Energien führen können. Die Menschen im postkommunistischen Teil Europas brauchen Mut und Hoffnung, um ihre Zukunft besser gestalten zu können, sagte Bartoszewski und warnte

zugleich vor dem weiteren Versagen europäischer Politiker, denen „Jugoslawien" eine bittere Lehre sein soll.

In Polen, gab Bartoszewski zu, habe sich bis jetzt kein befriedigendes Parteiensystem entwickelt. Er selbst hat während seiner Amtsperiode fünf Premierminister miterlebt - das sind fast italienische Verhältnisse. Die große Solidaritätsbewegung mit ihren zehn Millionen Mitgliedern brachte keine stabile Demokratie -die gemeinsame Motivation verschwand; unterschiedliche Optionen entstanden, die nicht immer klar und verständlich gewesen sind.

Für Genscher war die ökonomische Entwicklung in Polen eine positive Überraschung. Er mußte seine Erwartungen gerade in Polen am stärksten korrigieren, da der Ausgangspunkt besonders schwierig war. Genscher betrachtet die Entwicklungen aus einer globalen Perspektive -„West und Ost sitzen in einem Boot." Die Industriestaaten des Westens können nicht immer der Nabel der

Welt bleiben. Die anderen sind Mitwettbewerber geworden. In dieser Veränderung muß man neue Chancen sehen und nutzen können.

Joseph Boven sieht in der zukünftigen Welt eine Reihe von Großmächten - Amerika, China, Rußland, Indien, Islamische Völker. Europa muß eine Weltmacht in Verbindung mit Amerika werden, sonst wird es als Subjekt aus der Geschichte verschwinden.

Die Überwindung des Eisernen Vorhanges veränderte das Leben nicht nur im Osten; angesichts der revolutionären Veränderungen bleibt auch der Westen nicht unberührt. Genscher würde von der Bundesregierung einen Bericht zur Lage der Nation im vereinten Deutschland erwarten. Er sieht den Vereinigungsprozeß in Europa positiv: „Wenn Osteuropa dazu-

kommt, wird Europa europäischer". Die Deutschen werden dabei eine Schlüsselrolle spielen. Vieles hängt davon ab, ob sie „ein europäisches Deutschland wollen oder ins nationalistische Denken zurückfallen werden".

Vor einer Entwicklung nationalistischer Tendenzen in Polen hat Bartoszewski keine Angst. Das rechte Lager existiert praktisch nicht. Keine der Parteien, die rechts von der Mitte stehen, hat die Fünf-Prozent-Hürde geschafft und ist ins Parlament eingezogen. Die polnisch-deutschen Beziehungen zeigen eine richtige Entwicklung und beweisen das Überwinden von Nationalismen. Das erste Mal seit 1933 grenzt Polen an ein demokratisches Deutschland, und das wissen die Polen zu schätzen. An Rußland grenzt Polen nicht direkt, die Enklave um Kaliningrad ausgenommen. Die Russen wollen eine „andere" Demokratie entwickeln, weil Rußland nie eine Demokratie kannte. In Sachen NATO-Erweiterung soll der Westen

weniger Naivität und Nachgiebigkeit Rußland gegenüber zeigen, kritisierte Bartoszewski.

Rovan könnte sich eine „erwachsene Beziehung" zu Rußland vorstellen, aber „mit einem Elefanten kann man nicht in einem Bett schlafen, selbst wenn er Demokrat ist". Rovan glaubt, daß China und die Islamischen Staaten Zentralasiens bald das Hauptproblem für Rußland sein werden. „Die russische Welt gehört politisch nicht zu Europa", aber Rußland, Europa und Amerika sollten „zusammenspielen".

Auch Genscher ist der Meinung, daß Rußland zu groß ist, wie auch Amerika, um Mitglied der EU zu werden, aber man muß Rußland in ein Konzept der Stabilität von Wladiwostok bis Vancouver einbinden. Polen soll einen Aufnahmetermin bekommen, daß „man dahin leben kann". Europäische Traditionen und Besonderheiten spielen in nachbarschaftlichen Beziehungen eine wichtige Rolle, unterstrich Bartoszewski.

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