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Gas gegen Frauen und Kinder

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Mörderische Kämpfe toben gegenwärtig, so berichten neutrale Reisende, in ganz Kurdistan. Nachdem die kurdischen Freischärler bereits im Lauf dieses Sommers die Mittelstädte Penjwin, Quala-Dize und Jwirta gestürmt hatten und seitdem besetzt halten, fiel kürzlich nach monatelanger Belagerung auch der strategisch wichtige Flecken Köy Sanjak an der irakisch-iranischen Grenze in ihre Hände. Der Fall der im Ausland kaum bekannten Ortschaft markiert sehr wahrscheinlich einen Wendepunkt in dem seit mehr als fünfzig Jahren andauernden Bürgerkrieg zwischen Arabern und Kurden im Nordirak, der von weittragender Bedeutung für das ganze östliche Arabien werden könnte.

Während sich die Partisanen General Mustafa Mulla Barsanis früher nur infolge ihrer besseren Landeskenntnis und ihrer beweglichen Guerillakriegstaktik gegen die organisierte Übermacht der regulären Bagdader Streitkräfte behaupten konnten, die kurdischen Zivilisten aber wehrlos den völkerrechtswidrigen Luftangriffen und Brandschatzungen durch die arabische Soldateska ausgesetzt waren, startete Barsani jetzt zum erstenmal eine er-

folgreich verlaufende Offensive. Die Freischärler belagern gegenwärtig noch weitere sechs irakische Garnisonen im Norden des Landes, den sie im übrigen vollständig beherrschen. Ihre Kommandos zerstörten Erdölpipelines und Elektrizitätsleitungen und verhindern permanent ihre Reparatur. Dadurch entstanden bereits Millionenschäden. Auch eine wichtige Brücke an der Straße zwischen Bagdad und Kirkuk wurde gesprengt und so der Vormarsch irakischer Panzer unterbunden.

Diese Lage hatte bereits die ersten direkten politisch-militärischen Auswirkungen: Zwischen Euphrat und Tigris verstärkte sich, wie laufende geheime Hinrichtungen früherer prominenter Politiker zeigen, wieder die Umsturzgefahr. Diktatorgeneral Hassan el-Bakr will die in Transjordanien und Syrien stationierten irakischen Truppen, die bisher die antiisraelische „Ostfront“ verstärkten, teilweise abziehen und in Kurdistan einsetzen. Das bedeutet eine fühlbare Entlastung Israels.

Bomben auf Dörfer

Bagdads durch dauernde Säuberungen im Offizierskorps geschwächte Luftwaffe fliegt inzwischen pausenlose Angriffe gegen die kurdische Zivilbevölkerung. Militärische Ziele trifft sie nur selten, da sie zu gut getarnt sind. Die von den Kurdenkriegern besetzten Städte meidet sie, weil sie dort auf eine konzentrierte Luftabwehr trifft. Diese zerstörte bereits fünf irakische MIG-Düsen- bomber.

Die Opfer sind folglich ausschließlich Dörfer und Hirtensiedlungen, Frauen und Kinder. Nachdem sich die bisher verwendeten Napalmbomben als nicht wirkungsvoll genug erwiesen, verwendet man jetzt Schwefelgas- und Senfgaskanister. Sie wurden teilweise von ehemaligen NS-Technikem entwickelt, die noch jetzt an einem geheimen Ort in der Nähe Kairos modeme Massenvernichtungswaffen entwik- keln. Ihren Produkten fallen in Kurdistan massenweise Menschen und Tiere und die gesamten Ernten armer Bergbauern zum Opfer. General Barsani bezichtigt die Bagdader Regierung daher des organisierten Völkermordes.

Das „kleinere Über

Die Kurden stehen dieser Barbarei zum erstenmal nicht mehr hilflos gegenüber. Sie verfügen jetzt über moderne Waffen und hervorragend ausgebildete Eliteeinheiten. Es gibt dafür keine Beweise, doch Kenner der Verhältnisse führen das zurück auf iranische Hilfe. Die Teheraner Regierung unterdrückt zwar die Berichterstattung über den Kurdenkrieg, und bis vor kurzem war sie auch gegen ein autonomes Kurdistan. Im Iran, wie übrigens auch in der Türkei, leben gleichfalls Kurden. Bekämen ihre irakischen Stammesbrüder die ersehnten Freiheiten, würden sicher auch sie bald wieder danach verlangen. Doch seit das aggressive Bagdader Regime die persischen Rechte an dem weiter südlich verlaufenden Grenzstrom Schatt el-Arab nicht mehr anerkennen will, erblickt man in Teheran in einem autonomen Kurdistan, das den Irak entscheidend schwächen würde, offenbar das kleinere Übel.

Für die Kurden ist die Autonomie allerdings nur eine Minimalforderung. Sie wissen, daß sie sicher und frei leben können nur in einem eigenen Staat. Ihn wollte jedoch bisher kein Nachbarland. Die iranische Unterstützung verändert jetzt dieses Bild. Verhilft sie den Kurden zu der Freiheit, um die sie ein halbes Jahrhundert verbissen kämpften, entstünde im „fruchtbaren Halbmond“ ein neues Gleichgewicht. Neben Israel gäbe es plötzlich noch einen zweiten nichtarabischen Staat in diesem Gebiet. Er ist das wahre Ziel der kurdischen Offensive.

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