Gemeinschaft statt 'NdraNGheta

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Die bunten Wandmalereien im Zentrum von Riace erinnern an Jahrtausende der Migration, denen dieser Landstrich im tiefsten Kalabrien ausgesetzt war. Riace war seit 800 vor Christus Teil des antiken Groß-Griechenlands. Die Stadt in Süditalien steht auch für ganz Italien und seine Geschichte, als Zentrum des Mittelmeerraums, als Ankunfts-und Ausgangsort für so viele verschiedene Menschen.

Die Griechen verstanden unter Italien nur den südlichsten Teil der Halbinsel. Aber im Gegensatz zu diesem sprachlichen Ursprung und seiner reichen Kultur steht heute ein trauriger Landstrich am Ionischen Meer, gezeichnet von Entvölkerung und Bauspekulationen der 'Ndrangheta, wie hier die Organisierte Kriminalität heißt.

Aber allein, wenn man durch das Gassengewirr dieser halbverlassenen Stadt oben an der Bergflanke wandert - einer Stadt, gegründet um der Malaria und der Piraterie an der Küste zu entfliehen -merkt man, dass sich hier die Mentalität von jener unterscheidet, die in den vergangenen Jahren die Lega von Matteo Salvini in Italien an die Macht gebracht hat. Eine Partei der extremen Rechten, die einen Konsens in der Angst vor Immigranten aufgebaut und für sich gepachtet hat.

Die ersten kamen 1998. Es waren etwa einhundert Kurden, die just an jenem Strand landeten, der berühmt geworden war durch den Fund antiker Bronzestatuen. Seither sind andere Migranten aus vielen Ländern gekommen, vor allem aus jenen Zentralafrikas und des Nahen Osten. Viele von ihnen beschlossen, in der Region zu bleiben und einen Aufenthaltstitel zu erwerben. So sind sie untrennbare und gut integrierte Teile der Gesellschaft geworden. 1999 gründete der ehemalige Grundschullehrer und derzeitige Bürgermeister Domenico Lucano den Verein "Stadt der Zukunft", der die Flüchtlinge in das Leben der Landgemeinde integrieren sollte, die aufgrund der Abwanderung vom Aussterben bedroht war. Dieses Projekt war mit Hilfe europäischer Gelder erfolgreich und erntete viel Anerkennung.

Wiederbelebung einmal anders

Die Vereinigungen, die heute überall in Riace und Umgebung aktiv sind, haben es gemeinsam mit der Stadtverwaltung geschafft, die Straßen zu reinigen, Häuser zu renovieren und vergessene Handwerke wiederzubeleben. Sie haben Geschäfte eröffnet, Buchhandlungen und Bars. Ihnen ist es zu verdanken, dass die Kindergärten und Schulen erhalten wurden. Es gibt heute landwirtschaftliche Kurse, gemeinsame Gemüsegärten und Olivenpressen. So wurde die Stadt wiederbelebt und Arbeitsmöglichkeiten für die lokale Bevölkerung wie auch für die Migranten geschaffen. Riace wurde bald Ziel von Besuchern, Wissenschaftern und Künstlern.

Allerdings könnte das Projekt Riace bald auslaufen. Das Innenministerium blockiert seit zwei Jahren die Fördermittel für das Projekt "Sprar" (Sistema di protezione per richiedenti asilo e rifugiati / Schutzsystem für Aslywerber und Flüchtlinge). Dazu kam auch noch die persönliche und politische Feindschaft des neuen Vizepremierministers Italiens, Matteo Salvini, der Bürgermeister Lucano wiederholt angriff. Wegen der ausbleibenden Zahlungen hat die Gemeinde nun zwei Millionen Euro Schulden aufgehäuft und musste den finanziellen Notstand erklären. Die von den Vereinigungen angestellten Mitarbeiter könnten nun ebenso gekündigt werden, wie die 165 Asylwerber und viele mehr.

Gemeinsam mit der Stadtverwaltung haben die Bürger Riaces nun einen Hungerstreik geplant, um gegen das Ende der Aktivitäten und die Schließung ihrer Geschäfte zu protestieren.

Am Hauptplatz von Riace, wo Gemeindetreffen und öffentliche Sitzungen stattfinden, kann man nun nicht selten Bürgermeister Lucano treffen, wartend auf der Treppe der geschlossenen Taverne "Donna Rosa": "Sie zerstören das Land, wir stehen in Gefahr, alles zusperren zu müssen, alles, die Kindergärten inklusive. Wir könnten auch ohne Europa weitermachen als unabhängiges Projekt, das sich selbst trägt. Aber die Wartezeit von zwei jahren ist einfach zu lang gewesen. Die Schulden sind einfach zu hoch." Die Worte des Bürgermeisters finden Verbreitung in der Stadt. Auch seine Angst wird von vielen in der Gemeinde geteilt. Bürger haben Schilder in ihre Fenster gestellt, auf denen steht: "Auch ich unterstütze Riace."

Mimma, eine Frau von etwa 50 Jahren, die den Greißlerladen im Ort betreibt, meint ebenfalls, dass "die Blockade der Gelder so ist, als stünde man in Trauer". Warum? "Die Migranten haben uns wieder zum Leben erweckt. Die Neuankömmlinge fühlten sich immer sofort zu Hause bei uns, und uns kam vor, wir hätten immer schon zusammengelebt."

Freiwillige Aufnahme von Migranten

In Italien sind es die 100 Präfekturen, die Regierungsvertretungen in der Provinz, die über das Innenministerium Asylsuchende den Gemeinden zuweisen. Riace hat sich dabei besonders hervorgetan, indem es freiwillig Menschen aufnahm, die an den Küsten Siziliens gestrandet sind. So erging es auch Mohamed, einem 64-jährigen Iraker, der aus dem Irak kam oder Bayram, ein 65-jähriger Kurde, der über die Türkei kommend in Kalabrien landete. Er arbeitet seit vielen Jahren in Riace und hat sich hier niedergelassen. In den vergangenen Monaten haben sie die Terassen des Parco Sara instand gesetzt, eines Parks, voll mit Weinstöcken, Oliven-und Zitrusbäumen, unter denen Bienenstöcke zur Erzeugung von Honig gestellt wurden.

Neben Tischlereiarbeiten ist Bayram derzeit Teil eines kommunalen Fahrerservices, das alte und gebrechliche Personen zum Arzt oder ins Krankenhaus führt oder zum Einkaufen. Antonio, ein 29-jähriger Mann aus Riace, der mit Bayram in der Tischlerei arbeitet, sitzt neben ihm. Auch er ist durch die Blockade der Gelder aus Rom arbeitslos geworden. "Wer unser Modell verhindert, sollte sehen, wie Riace vor 20 Jahren ausgesehen hat. Damals gab es hier nichts. Das einzige Fest war das Fest des Stadtpatrons. Die Jungen mussten von hier emigrieren. Und das werde ich vermutlich auch machen müssen kommendes Jahr."

2019 läuft auch die zweite Amtszeit von Bürgermeister Lucano aus. Er kann nicht noch einmal kandidieren. Und auch die Lega versucht, sich in Riace festzusetzen, wie in ganz Süditalien, auch wenn sie eigentlich aus der Lega Nord kommt, einer Partei, die sich vom Süden abspalten wollte. Eben diese Lega bezog damals ihre Popularität aus der Ablehnung gegen Süditaliener, die nach Norden gingen, um Arbeit zu finden, weil es im Süden keine Arbeit gab. Raffaele, ein Bauer aus Riace, der jeden Nachmittag seine Früchte in der Stadt verkauft, meint: "Erst waren wir es, die in die Städte des Nordens aufgebrochen sind. Jetzt sind sie es, die zu uns kommen."

Der Exodus der Vergangenheit

Der Exodus, von dem er spricht, ist immer noch in den höher gelegenen Stadtteilen von Riace zu sehen, wo viele verlassene und baufällige Häuser stehen, aber auch in den nicht fertig gestellten illegalen Rohbauten unten an der Küste. Es gibt hier so viele dieser "Verlassenschaften", dass sie einen eigenen Namen bekommen haben: "Architettura del non finito"."Diese Gebäude sind in den meisten Fällen von jenen gebaut worden, die glaubten, sie könnten früher oder später zurückkehren und ihren Kindern etwas hinterlassen." Das erzählt Rosa, eine junge Videoregisseurin und Anthropologin, die als junges Roma-Kind in Kalabrien adoptiert wurde. "Mit dem Exodus der Jungen fehlte dann auch jene Generation, die etwas gegen die Organisierte Kriminalität und die damit verbundenen Polit-Unternehmer hätte unternehmen können."

Speziell zu Beginn der Aktivitäten in Riace gab es gegen Bürgermeister Lucano und gegen Vereine, die sich mit Migranten beschäftigten, Drohungen der 'Ndrangheta. Es gab Drohbriefe, Gewehrsalven auf Fenster und Geschäfte. Einige Einschläge sind immer noch an der Mauer eines Geschäftes sichtbar. Davor kehren Malang, den sie hier Mario nennen, und Damiano, ein anderer Gemeindearbeiter, die Straße. Malang hat an der Universität Gambia Landwirtschaft studiert. Er ist seit zwei Jahren in Riace, und schwärmt von der kalabresischen Gastlichkeit. Bis vor Kurzem, erzählt er, konnten sie noch mehrere Esel einsetzen, um den Müll vor den Häusern abzuholen. Nun ist ihnen wegen Budgetknappheit nur einer geblieben.

In Camini, einem anderen mittelalterlichen Dorf drei Kilometer von Riace entfernt, wurde ein ähnliches Projekt zur Aufnahme von Migranten gestartet. Es erhält im Gegensatz zu Riace noch immer offizielle Unterstützung. Zu den 250 Einwohnern kamen 120 Asylsuchende, mehrheitlich aus Syrien, die sechs Monate lang in einem Integrationsprogramm "Jungi Mundi" von Rosario Zurzolo begleitet werden, das seit 2014 besteht. Es ist ein offenes Projekt für Migranten, aber auch für die lokale Bevölkerung. Die Gemeinde ist nun voll mit Workshops und Werkstätten. Die Volksschule wurde renoviert und geteilt in Schule und Flüchtlingsheim. Katia, eine Projektbetreuerin aus Verona, ist nach Camini gezogen - sie ist Anwältin, widmet sich hier neben den nötigen bürokratischen Notwendigkeiten in Asylfällen auch der Spracherziehung. Sie meint, manche syrische Flüchtlinge würden nicht Italienisch lernen in der festen Überzeugung, bald wieder nach Syrien zurückkehren zu können.

Diese Absicht hat Omar, ein 30-jähriger Mann von der Elfenbeinküste, nicht. Er hat beim Maurer und Zimmermann des Dorfes Pino gelernt, wie man alte Steinhäuser renoviert. So hat sich in diesen entfernten Dörfern, weit weg von der Tagesaktualität und den aufgeheizten Debatten der Medien, ein anderes Zusammenleben zusammengefügt. Vielleicht sind ja auch die "fremden" Kinder, die sich in Riace jeden Abend mit ihren einheimischen Alterskollegen zum Fußball treffen und in kalabresischem Dialekt über den Platz rufen, tatsächlich Ausdruck einer Zeit, die noch kommen wird.

Übersetzung: Oliver Tanzer |

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