Putin - © DIE FURCHE · 23 International Foto: APA / AFP / Sputnik / Anton Novoderezhkin

Geostratege Albert A. Stahel: "Wir müssen die Welt neu aufteilen"

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Dass in Europa die atomare Bedrohung greifbar wurde, ist auf ein Versäumnis der Clinton-Regierung zurückzuführen, sagt der Schweizer Geostrategieexperte Albert A. Stahel. Über realpolitische Auswege.

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Dass in Europa die atomare Bedrohung greifbar wurde, ist auf ein Versäumnis der Clinton-Regierung zurückzuführen, sagt der Schweizer Geostrategieexperte Albert A. Stahel. Über realpolitische Auswege.

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Alber A. Stahel, Professor für Strategische Studien an der Universität Zürich, gilt als ausgewiesener Experte für Geopolitik und Geostrategie. Im FURCHE-Interview erklärt er, warum Wladimir Putin seinen Angriffskrieg in der Ukraine erst beenden wird, wenn ihm US-Präsident Joe Biden auf Augenhöhe begegnet – und warum man aufhören muss, vom Sturz des Diktators zu träumen.

DIE FURCHE: Erst jüngst verglich US-Präsident Biden die aktuelle Eskalation in der Ukraine mit der Kubakrise. Welche Analogien sehen Sie?
Albert A. Stahel:
Es gibt eine: die Praxis von Drohung und Gegendrohung. Hier droht Moskau, taktische Kernwaffen einzusetzen, dort drohen die USA mit Vergeltung. Allerdings lässt uns die Biden-Regierung im Unklaren, wie diese aussehen würde. Aber dann hört es auch schon auf mit den Analogien.

DIE FURCHE: Wo sehen Sie die Unterschiede zwischen 2022 und 1962?
Stahel:
Dass es in der Kubakrise um strategische Atomwaffen ging – und nun um nichtstrategische Atomwaffen (auch „taktische“ Atomwaffen genannt, Anm.), also Nuklearwaffen in einem Bereich von unter tausend Kilometern. Aktuell geht es nicht um die ganze Welt, sondern um den Grenzbereich Ukraine/Russland.

DIE FURCHE: Wenn die Analogien zwischen der Kuba- und der Ukraine-Krise überschaubar sind, lassen sich dennoch Zusammenhänge ausmachen?
Stahel:
Ja. Damals gab es zwei Blöcke: die USA mit ihren Verbündeten als die eine und die Sowjetunion als die andere Supermacht. Diese beiden Weltmächte begegneten sich praktisch auf Augenhöhe. Das ist nun fast vorbei. Bis auf eine Ausnahme: die Anzahl strategischer Nuklearwaffen. Bei allem, was über eine Reichweite von 5500 Kilometern hinausgeht, ist Moskau gleichauf mit Washington. Das geht zurück auf das SALT I-Abkommen (Strategic Arms Limitation Talks, Anm. d. Red.) 1972/73 und die daraufhin geschlossenen Verträge. Aber was man nie, nie unter Kontrolle gebracht hat, nie richtig verhandelt hat, sind taktische Nuklearwaffen, die den Streitkräften zugewiesen sind. Also jene, um die es aktuell geht. Es gab Ende der 1980er den INF-Vertrag (Mittelstrecken-Nuklearstreitkräfte-Vertrag, Anm. d. Red.) zwischen Reagan und Gorbatschow. Hier wurde die Waffenkategorie von 2000 bis 5500 Kilometer, also jene, die vor allem Europa betraf, quasi eliminiert. Aber: Dieser Vertrag wurde von Donald Trump aufgelöst – mit dem Argument, der Vertrag wäre von russischer Seite durch eine Nachrüstung verletzt worden. Und tatsächlich hat man in den vergangenen zehn Jahren auf russischer Seite wieder Mittelstreckenkernwaffen eingeführt.

DIE FURCHE: Hätte man das damals nicht diplomatischer lösen müssen bzw. können?
Stahel:
Das hätte vor Trump geschehen müssen. Der beste Verhandlungspartner, den die USA und die NATO auf russischer bzw. sowjetischer Seite gehabt haben, war Gorbatschow und später Jelzin. Hier hat die Regierung Clinton vieles verpasst. Und dann kam 1999/2000 Putin. Von da an verschlechterte sich die Gesprächsbasis. Beziehungsweise Putin verhandelte nur, wenn es sich um Sachverhalte handelte, in denen er auf Augenhöhe verhandeln konnte. Eben im Bereich der strategischen Nuklearwaffen. Da hat man sich immer geeinigt. Aber der ganze Bereich rund um die Mittelstreckenwaffen stand bei der Putin-Regierung nicht mehr zur Diskussion.

DIE FURCHE: Was bedeutet Russlands Bestand von nichtstrategischen Atomwaffen nun konkret für den Kriegsverlauf?
Stahel:
Hier ist Europa betroffen, das nie fähig war, für sich selbst zu sorgen. Es hat sich immer auf die Schutzmacht USA verlassen. Die einzigen zwei, die sich im Falle des Falles schützen könnten, sind Frankreich und Großbritannien, weil sie eigene Nuklearwaffen haben. Die Drohung, in der Ukraine Nuklearwaffen einzusetzen, ist für Russland ein willkommenes Spielfeld. Es weiß um die Ohnmacht Europas. Denn sollte Russland nichtstrategische Nuklearwaffen einsetzen, etwa im Grenzgebiet Russland/Ukraine, wären die Wirkungen nicht begrenzt auf diesen Raum. Der Druck, die Verstrahlung, die Hitze würden sich, neben Russland selbst, auf das übrige Europa auswirken. In welchem Ausmaß, das kommt auf den jeweiligen Gefechtskörper an. Wir haben Gefechtsköpfe, die liegen im 0,5-Kilotonnen-Bereich, andere im 200-Kilotonnen-Bereich. Zum Vergleich: Hiroshima hatte 13,5 Kilotonnen Sprengkraft. Das heißt, es gibt nichtstrategische Nuklearwaffen, die hätten eine ungleich größere Zerstörungswirkung als die Bombe auf Hiroshima.

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