Flucht Indien - © Foto: Getty Images / Bettmann

Geschichte der Flucht: Das Land und die Spinne

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Andreas Kosserts Band „Flucht – Eine Menschheitsgeschichte“ wurde von der deutschen Friedrich-Ebert-Stiftung als „Das politische Buch“ 2021 ausgezeichnet. Eine gelungene Collage über das Weggehen, ohne jemals anzukommen.

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Andreas Kosserts Band „Flucht – Eine Menschheitsgeschichte“ wurde von der deutschen Friedrich-Ebert-Stiftung als „Das politische Buch“ 2021 ausgezeichnet. Eine gelungene Collage über das Weggehen, ohne jemals anzukommen.

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„Im äußersten Winkel der alten Karte liegt das Land, nach dem ich mich sehne. Leider hat eine riesige Spinne darüber ihr Netz gesponnen und mit klebrigem Speichel die Schranken der Träume geschlossen“, schreibt der polnische Dichter Zbigniew Herbert. Der 1924 in Lemberg geborene Lyriker, der sich während der deutschen Okkupation dem polnischen Widerstand anschloss, musste seine Heimat letztlich verlassen und wurde so zu einem Vertriebenen, einem rastlosen Weltreisenden.

Es ist dieses „Müssen“, das den deutschen Historiker Andreas Kossert in seinem 2020 im Siedler Verlag erschienenen Buch „Flucht – Eine Menschheitsgeschichte“ beschäftigt. Schon zu Beginn stellt er klar, dass es ihm ausschließlich um die Geschichten Geflüchteter und nicht um Migranten gehe, auch wenn es heutzutage schwierig sei, diese beiden Begriffe trennscharf auseinanderzuhalten. Was macht es mit Menschen, wenn sie plötzlich gezwungen sind, ihr Zuhause zu verlassen? Wie lebt es sich in einem fremden Land, in dem man weder die Deutungshoheit hat, noch als gleichwertiger Bürger angesehen wird? Und wird man jemals wirklich ankommen? Kossert lässt Fragen wie diese von jenen verhandeln, die es wissen müssen: den Geflüchteten selbst. Er bedient sich, wie in der Alltagsgeschichte üblich, Quellen wie Tagebüchern, Aufzeichnungen, privater Fotos, Protokollen und von Flüchtlingen verfasster Bücher, um Schicksale aus Hunderten von Jahren jenen näherzubringen, die ihre Heimat nie verlassen mussten.

Denn in einem anderen Land angekommen, scheinen die Probleme erst zu beginnen. Als unfreiwilliges Kollektiv steht man im Mittelpunkt, als Individuum ist man unsichtbar. Vertriebene, so Kossert, haben häufig keine Identität und werden nur als Gruppe verstanden. Dem möchte der Historiker gegensteuern. Seine Quellen sind eine gelungene Collage voll menschlichen Leidens, traumatischer Erfahrungen, Sehnsüchte und Hoffnungen. Egal ob aus Schlesien, Myanmar oder aus Syrien: Flüchtlinge bleiben eine Projektionsfläche für jene, die Angst haben. Wie sich das anfühlt, beschreibt die Syrerin Vinda Gouda: „Obwohl ich auch aus einer kleinen Stadt in Syrien komme und für mich die Leute in Damaskus schon fremd waren, bin ich, seitdem ich in Europa in, einer von hunderttausenden Flüchtlingen aus Syrien, Pakistan, Afghanistan, Irak, Iran und Afrika. Ich habe durch den Krieg Freunde und Verwandte verloren, Wohnung, Job, Auto, meine Vergangenheit und meine Heimat. Aber ein Verlust, den ich erst später gespürt habe, ist meine Individualität, die ich am Schlauchboot an den Grenzen Europas zurückgelassen habe.“

Heimat, ein Schlüsselbegriff

Kossert zeigt auf, dass Flucht und Vertreibung Massenphänomene sind, hinter denen sich viele Einzelschicksale verbergen, und er erzählt in seinem Buch von vielen Fluchtbewegungen, die entweder längst in Vergessenheit geraten sind oder sich dem eurozentrischen Geschichtsrahmen entziehen. Als im Juni 1947 die Teilung Indiens verkündet wird, verlieren etwa vierzehn Millionen Menschen in kürzester Zeit ihre Heimat. Nur wenige Jahre später einigen sich die Beteiligten der Indochina-Konferenz in Genf 1954 auf eine Teilung Vietnams in einen kommunistischen Norden und einen prowestlichen Süden. Daraufhin muss mehr als eine Million Vietnamesen aus dem Norden fliehen. Aber auch in Algerien kommt es zu Fluchtbewegungen großen Ausmaßes. Im Zuge des Algerischen Unabhängigkeitskrieges vertreibt die französische Kolonialmacht von 1954 an mehr als eine Million Algerier.

Ein Teil flieht nach Marokko, die anderen werden in Sammellagern interniert. Ist die Heimat mit der Flucht für immer verloren? „Jein“, sagt Kossert. Das Dort, die verlorene Heimat, werde zur Projektionsfläche für das Hier. Die Fluchterfahrung teilt das Leben dieser Menschen in ein Davor und ein Danach. Wie ein Schwert wird ihre Geschichte durchtrennt, und die Vergangenheit lässt sie ihr Leben lang nicht los – „auch, wenn sie glauben, mit ihr abgeschlossen zu haben“. Flüchtlinge, die in ihre Heimat nicht zurückkehren können, empfinden einen unstillbaren Schmerz, den andere kaum verstehen können, sagt Kossert. Kann man also jemals ankommen, wenn einem das Heimweh im Weg steht? Welchen Stellenwert das Zuhause hat, zeigt sich auch an einem Bild von zwei alten bronzenen Schlüsseln mit arabischen Inschriften: Sie gehörten sephardischen Familien, die 1492 aus Spanien vertrieben wurden.

Auf ihrer Reise ins Ungewisse schlossen sie ihr Haus ab, nahmen die Schlüssel mit und gaben diese über Generationen weiter. Heimat wurde dadurch also wahrlich zu einem Schlüsselbegriff. Schon der österreichische Schriftsteller Jean Améry bringt den Unterschied zwischen Geflüchteten und Nichtgeflüchteten auf den Punkt: „Man muss Heimat haben, um sie nicht nötig zu haben.“

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