Werbung
Werbung
Werbung

Brechts Lehrstückspiele kreisen um das Problem der Gewalt. Sie sind ein sehr praktischer Weg zur Friedenserziehung.

Als Gewaltfreier geht man davon aus, dass der andere letztlich doch einsichtsfähig ist. Selbst hinter Schreckensfiguren wie Adolf Hitler steckt auch ein armer, bedauernswürdiger Kerl.

Reiner Steinweg ist ein in Linz lebender deutscher Friedens- und Konfliktforscher, der seit 1986 die oberösterreichische Landeshauptstadt in Konfliktfragen berät. Ein Gespräch über Gewalt bei Brecht, den Umgang mit Gewaltmenschen und die Rolle Europas beim Nordsüdkonflikt.

DIE FURCHE: Herr Steinweg, Sie sind einerseits Friedens-und Konfliktforscher, andererseits Brecht-Forscher. Wie hängt das zusammen?

Reiner Steinweg: Es gibt einen gemeinsamen Ausgangspunkt. 1957 sind wir von der Schule aus nach Göttingen gefahren, um "Mutter Courage" zu sehen, obwohl Brecht in Westdeutschland verfemt war. Durch das ganze Stück zieht sich die Frage: "Warum machen die Menschen das?" - immer wieder aufs Neue in den Krieg ziehen, selbst wenn sie dabei die eigenen Kinder verlieren -das hat mich tief berührt und erregt. Etwa zur gleichen Zeit erfuhr ich von meinen Lehrern, in welch unmenschliches System mein Vater verwickelt war. Das war der zweite Schock nach der Nachricht, dass er noch am letzten Kriegstag in Jugoslawien gefallen ist, die wir 1951 erhalten hatten. Ich wusste natürlich noch nicht, dass man Friedensforschung beruflich machen kann. Sie war gerade erst im Entstehen. Aber dass der Friede ein Lebensthema werden würde, war klar.

DIE FURCHE: Aufgrund Ihrer Prägung?

Steinweg: Ja. Wenn man diese beiden Schocks und die Flucht 1945 als "Prägung" bezeichnen will. Und dass ich den Kriegsdienst verweigern und niemals eine Waffe in die Hand nehmen würde, war auch klar zu diesem Zeitpunkt. Nach der Matura 1959 habe ich Geschichte und deutsche Literatur studiert und dort unbewusst auf Brecht gewartet. In der Folge habe ich über Brechts "Lehrstücke" promoviert. Als ich in den 1970er-Jahren an der Hessischen Stiftung Friedens-und Konfliktforschung angestellt war, schickten mir zwei junge Pädagogen aus Hannover ihre Examensarbeiten, in denen sie ihre Lehrstück-Spielversuche mit Schülern und Jugendlichen beschrieben. Das war der Auftakt für ein großes Forschungsprojekt "Jugend und Gewalt" auf der Basis des Lehrstückspiels. Denn die Lehrstücke kreisen immer um die Frage des Umgangs mit Gewalt. In diesem Projekt habe ich meine beiden Identitäten - Brecht-und Friedensforschung -verbunden. Ich habe dann meine eigene Form entwickelt, Lehrstücke im Interesse der Gewaltreflexion zu spielen, die ich bis heute praktiziere.

DIE FURCHE: Was meinen sie mit Lehrstück?

Steinweg: Lehrstücke finden ohne Publikum statt. "Die Spieler spielen für sich selber", schreibt Brecht. Sie untersuchen ihre Möglichkeiten, Gewalt in den verschiedensten Facetten zu erkennen und ihr entgegen zu treten, ohne selbst gewalttätig zu werden. Gewalt hat ja Vorstufen. Die Lehrstücke sind ein sehr praktischer Zugang zur Friedenserziehung, es wird eigenständig experimentiert. Als Kursleiter gebe ich nur von Abschnitt zu Abschnitt die Grundregeln vor. Im Spiel geht es ganz zentral um die Haltungen, die man einnimmt. Die Lehrstücke galten als schlechte Literatur, einfach weil nicht verstanden wurde, was Brechts Intention war. Wenn man die Texte für das nutzt, wofür sie geschrieben sind, merkt man erst, wie gut sie sind.

DIE FURCHE: In Ihrer Wahlheimat Linz wurde 2017 ein Mahnmal für aktive Gewaltfreiheit errichtet. Wie definiert sich Gewaltfreiheit im aktuellen politischen Kontext, zählen zu Gewalt auch Verbalgewalt oder Populismus?

Steinweg: Ja. Ich will nicht pauschal alle Erscheinungsformen von Populismus verdammen, obwohl manche sehr bedrohlich sind - keine Frage. Wenn man Gandhi liest, oder auch Martin Luther King, wird schnell klar: Gewaltfreiheit zeichnet sich einerseits aus durch standhaftes Beharren auf dem, was man als Wahrheit erkannt hat, was aber niemals die absolute Wahrheit ist. Andererseits dadurch, dass man strikt unterscheidet zwischen dem Menschen, der einem als Gegner gegenübersteht, und dem, was er vertritt und tut. Die Identifizierung der Taten und des Menschen, der sie tut, führt in der Regel zu Gewalt. Wenn man die vermeiden will, versucht man sich klar zu machen, dass der "Böse", der einem gegenübersteht, böse Dinge aus für gut gehaltenen Motiven tut, manchmal sicherlich auch aus Machthunger, also innerer Armut. Als Gewaltfreier geht man immer davon aus, dass der andere, so verbohrt er erscheint, letztlich doch einsichtsfähig ist und auch positive Seiten hat. Selbst hinter Schreckensfiguren wie Adolf Hitler steckt auch ein armer, bedauernswürdiger Kerl.

DIE FURCHE: Ist das nicht eine allzu idealistische Zugangsweise?

Steinweg: Ich meine nicht, dass alles positiv sei. Hinduisten haben es in dieser Hinsicht leichter als wir Europäer. Sie gehen davon aus, dass in jedem Menschen ein unzerstörbarer "göttlicher Kern" steckt. Das ist aber keine Verharmlosung schrecklicher Taten.

DIE FURCHE: Wo sehen Sie im Programm der Bundesregierung Konfliktpotenzial?

Steinweg: Was ich für einen großen Irrtum halte, ist, Gesetze so auszurichten, dass Reiche noch reicher und Arme noch ärmer werden. Wenn man nur ein bisschen von Geschichte versteht, weiß man, dass die immer extremer sich öffnende Einkommensschere zu Gewalt führen wird. Dem müssen wir mit aller Kraft gewaltfrei entgegentreten.

DIE FURCHE: Dennoch hat dieses Regierungsprogramm Anhänger.

Steinweg: Natürlich, ein Teil der Bevölkerung profitiert davon. Aber ein größerer Teil hat die Parteien gewählt, weil man sich eine Verbesserung der Lebenssituation versprochen hat.

DIE FURCHE: Warum ist das so? Werden soziologische Erkenntnisse in der Politik nicht ausreichend berücksichtigt?

Steinweg: Normalerweise dauert es 50 bis 100 Jahre, bis sich wissenschaftliche Erkenntnis im Alltag manifestiert, und die Sozialwissenschaft ist noch jung. Es liegt zum einen, zugespitzt gesagt, am Unwissen bzw. am Zeitmangel der Politiker, dass sie sich mit relevanten Fragen nicht wissenschaftlich auseinandersetzen. Zum anderen war der abendländische Mainstream seit Konstantin trotz oder mit Christentum ein durch und durch kriegerischer, mindestens bis 1945. Die Denkgewohnheiten stecken in den Knochen und sie abzulegen, erfordert viel Reflexion.

DIE FURCHE: Lässt sich in Bezug auf die Flüchtlingsfrage von einem neuen "Kalten Krieg", diesmal zwischen Nord und Süd, sprechen?

Steinweg: Beim Kalten Krieg zwischen Ost und West standen sich bis zu einem gewissen Grad gleich starke Gegner gegenüber -das ist im Nord-Süd-Konflikt nicht der Fall. Zumindest Afrika wird immer noch ausgebeutet, nicht nur von Europa, auch von Amerika und Teilen Asiens. Immer mehr Afrikaner wollen nach Europa, weil sie ihre Lebensgrundlagen verlieren oder den daraus folgenden mörderischen politischen Zuständen zu entfliehen suchen. Die europäische Bevölkerung sieht das aber nicht und hat weder die historische noch die politische Kenntnis von dem, was geschehen ist und geschieht. Man denke an den Gift-Müll, den in Europa niemand entsorgen will, der dann in Afrika landet, Tausende Menschen erkranken daran. Bis heute gibt es in den bekannten Fällen keine Entschädigung. Oder nehmen Sie die leergefischten Gewässer vor der afrikanischen Küste oder das "Landgrabbing". Dass die Menschen von dort weg wollen, wo sie nicht mehr menschenwürdig leben können, ist keine Bosheit.

DIE FURCHE: In Europa sagen viele, "wir können nicht alle aufnehmen". Was wäre zu tun?

Steinweg: Europa muss in den afrikanischen Ländern energisch investieren und helfen, Schulen und Produktionsstätten aufzubauen oder nachhaltige ökologische Landwirtschaft zu entwickeln und auf den Export europäischer Billig-Nahrungsmittel in diese Länder verzichten. Man weiß seit langem, dass Kleinprojekte einzelner NGOs am besten funktionieren. Dafür finden sich in dem neuen Buch "Hoffnungstropfen" von Josef Nussbaumer und Stefan Neuner eindrucksvolle Beispiele.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung