Revolution in Trümmern
FOKUSBischof Álvarez zur Lage in Nicaragua: „Gewalt war latent längst vorhanden“
Der Bischof von Matagalpa, Rolando Álvarez Lagos, über Nicaragua 40 Jahre nach der Revolution.
Der Bischof von Matagalpa, Rolando Álvarez Lagos, über Nicaragua 40 Jahre nach der Revolution.
Rolando Álvarez Lagos, 52, hat an der Päpstlichen Lateranuniversität Theologie und Philosophie studiert und wurde 2011 Bischof von Matagalpa. Seit 2009 fungiert er außerdem als Sekretär des Zentralamerikanischen Bischofssekretariats. Das Interview fand während der Tagung „Lateinamerika und Friede?“ der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart Ende Juni 2019 statt.
DIE FURCHE: In Nicaragua gab es vor 40 Jahren eine Revolution, die nach über vier Jahrzehnten Diktatur soziale Gerechtigkeit schaffen wollte. An der Spitze der Revolutionsregierung stand Daniel Ortega, der auch jetzt seit zwölf Jahren wieder regiert. Ist das ein sozialistisches Regime?
Rolando Álvaraz Lagos: Ich würde von Fiskalpopulismus sprechen, der lange Zeit von Venezuela gesponsert wurde. Zwischen 2008 und 2017 hat Nicaragua 4,87 Milliarden Petrodollars bekommen. Davon wurde ein Teil in Sozialprojekte investiert, die Großteils klientelistisch ausgerichtet sind. Es profitieren Parteimitglieder oder Staatsangestellte. Diese Gelder sind nicht über die offiziellen Kanäle geflossen, sondern über Privatunternehmen. Mehr als eine Milliarde landete bei der Familie Ortega, der Rest von 3,77 Milliarden muss vom nicaraguanischen Volk zurückgezahlt werden. Das sind jetzt Staatsschulden.
DIE FURCHE: Ortega ist stolz darauf, sich nicht beim IWF verschuldet zu haben.
Lagos: Damit wurde eine gewisse makroökonomische Stabilität erreicht, die sich aber nicht in den Haushalten niedergeschlagen hat. Unternehmer haben mir bestätigt, dass keine der konservativ-liberalen Regierungen davor ihnen so gute Bedingungen geboten hat wie die sandinistische von Ortega. Die Zusammenarbeit mit dem Unternehmerverband wurde sogar in der Verfassung festgeschrieben. Jedes Gesetz wurde mit den Unternehmern abgestimmt. Es herrschte ein Steuerparadies für die wirtschaftlichen Eliten.
DIE FURCHE: Diese Flitterwochen endeten mit der Sozialversicherungsreform vom April 2018, die die Unternehmer belastet hätte. Nicaragua galt als Land mit vergleichsweise geringer Neigung zur Gewalt. Nun sind in eineinhalb Jahren 500 Menschen der Gewalt zum Opfer gefallen.
Lagos: Die Unruhe war längst latent vorhanden. Dann brach in der Biosphäre Indio Maíz ein Brand aus und es gab Proteste, weil die Regierung zu wenig unternahm. Schließlich gingen die Studenten gegen Erhöhungen der Sozialversicherungsbeiträge für Pensionisten auf die Straße und viele Menschen schlossen sich an.
DIE FURCHE: Bis dahin war die Polizei mit dosierter Gewalt gegen Demonstrationen vorgegangen, etwa bei den Protesten gegen den geplanten interozeanischen Kanal.
Lagos: Diese Proteste waren eine regionale Angelegenheit, organisiert von der kommunalen Bauernbewegung. Was im April passiert ist, war ein nationaler Aufstand, der mit Ausnahme der Atlantikküste das ganze Land erfasst hat. Das war eine spontane Erhebung. Es kann sein, dass bestimmte politische Gruppen Einfluss genommen haben, aber in Nicaragua gibt es keine Organisation, die imstande wäre, so einen Aufstand zu steuern.
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