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Gewerkschaften in unserer Zeit

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In den Apriltagen des Jahres 1945 erschien die Gründung eines einheitlichen Gewerkschaftsbundes anstelle der Richtungsgewerkschaften der Ersten Republik aus mehreren Gründen selbstverständlich, wenngleich der Vorgang ungewohnt und zunächst mit einiger Ungewißheit für die Zukunft belastet war. Diese Gründe waren die gemeinsamen Leidens- jahre führender Gewerkschafter aller politischen Richtungen in den Nazikonzentrationslagern, die sich nicht vorstellen konnten, nunmehr zueinander wieder in Gegnerschaft treten zu müssen; es war der Wille, die neue Demokratie von Grund auf gemeinsam zu bauen, um aus ihr ein dauerndes Instrument der wiedergewonnenen Freiheit zu machen; es war die Überzeugung, daß die Abwehr jeder autoritären Tendenz sofort nach dem Zusammenbruch der Diktatur einsetzen müsse, und es waren die rationalen Überlegungen nach einem wirtschaftlichen Zusammenbruch. alle Kräfte des Landes. zum Wiederaufbau zusammenzufassen, um auch die Lage der arbeitenden Menschen rascher als sonst zu, bessern, darüber hinaus in der kritischen Besatzungszeit der Besatzungsmacht die Zustimmung zu einer Gewerkschaftsform leichter zu machen, von der sie sich für sich selbst politische Erfolge erhoffte, die dann allerdings nicht eintreten konnten.

Trotz dieser einigenden Voraussetzungen inmitten der beglückenden Situation, die politische Knebelung überstanden zu haben, waren die nächsten Schritte in den Alltag einer neuartigen Gewerkschaftsarbeit unter Hunger und Entbehrung doch voll der Fragezeichen. Wird die Gewerkschaftseinheit auch so zusammenwachsen können, daß sie Bestand haben wird?

Heute, nach mehr als zwanzig Jahren, wissen wir, daß das Experiment gelungen ist, daß die neue Gewerkschaftsbewegung ganz wesentlich zur Konsolidierung der jungen Zweiten Republik und zur Festigung des inneren Friedens beitrug.

Für dieses Gelingen sind in der Hauptsache zwei Gründe ins Treffen zu führen. Fürs erste waren sich die führenden Gewerkschaftsfunktionäre aller Richtungen klar, daß einer der verbindenden Faktoren die Notwendigkeit war, durch den Wiederaufbau unserer Wirtschaft die unerläßliche Grundlage für ein lebenswertes Dasein im neuen Staatswesen und für die Erfüllung der gewerkschaftlichen Aufgaben zu schaffen; daß aber auch die Zeit des Richtungskampfes definitiv vorüber sein mußte, daß die Periode der Zusammenarbeit und des Dialogs begonnen hatte. Und es sollten in den folgenden Jahren sehr oft die sozialistischen wie diie christlichen Gewerksehafter im Gewerkschaftsbund sein, die den Gedanken der Kooperation in verschiedensten Situationen stärkten. Fürs zweite war ein neues Wirtschaftskonzept, das des Wohlfahrtsstaates, in den Vordergrund getreten, das bald Vollbeschäftigung und steigenden Lebensstandard brachte, das den „Kuchen” für alle vergrößerte. Es wurde völlig klar, daß der alte militante Klassenkampf seinen Sinn verloren hatte, denn ein nunmehr etwas geändertes wirtschaftliches Produktionsprinzip hatte nicht mehr Massennot und Arbeitslosigkeit zur Folge, weshalb der Kampf gegen ein früher oft unerträglich scheinendes System ebenso hinfällig wurde wie die autoritäre Auslöschung der Gewerkschaftsfreiheit. Nicht gegenseitiger Kampf blieb die beherrschende Losung, wie in den Tagen der ökonomischen Dürre, sondern Koexistenz, wirtschaftliche Partnerschaft, von Vernunft und Toleranz getragen, sollten zum Leitprinzip in der Zweiten Republik werden.

Die Gewerkschaften Österreichs sind dem Grundsatz, daß in der neuen Zeit steigender Wohlstand nicht durch gegenseitigen Kampf, sondern nur durch Vernunft erzielbar ist, auch nach vollzogenem Aufbau der österreichischen Wirtschaft treu geblieben. Šie gingen die schwierige Periode der zentralen Lohn- und Preisabkommen ein, um die Stabilität unserer Wirtschaft, vor allem aber auch, um die Gesundung unserer Währung zu sichern. Und selbst als die Wirtschaft so weit fundiert war, daß die Lohnpolitik den einzelnen Gewerkschaften freigegeben werden konnte, vergaßen diese niemals die wirtschaftlichen Schranken, wenngleich sie als berufene Interessenvertretung selbstverständlich die Interessen ihrer Mitglieder konsequent wahrzunehmen hatten. Die Gewerkschaften konnten sich in gewachsener Prosperität nicht begnügen, Preiserhöhungen durch Lohnerhöhungen zu kompensieren, sie mußten den Beschäftigten auch ihren , Anteil an steigender Produktivität sichern, ohne außer acht zu lassen, daß Wachstum der Wirtschaft darüber hinaus auch beträchtliche Mittel für Investitionen erfordert.

Alle diese Überlegungen, nicht nach Faustregeln oder über den Daumen zu wirtschaften und die Wirtschaftserträge zu verteilen, führten zu immerwährenden Vorschlägen des Gewerkschaftsbundes, die Löhne und die Preise gemeinsam unter Kontrolle zu halten, aber auch ein allgemein akzeptierbares Konzept für die weitere Entwicklung der Wirtschaft zu finden. Diese gewerkschaftlichen Bestrebungen waren stets ehrlich gemeint. Oft genug wurde ihnen unterschoben, damit eine schleichende Sozialisierung zu bezwecken, der Gewerkschaftsbund ist aber immer für eine Verstaatlichung, eine Vergesellschaftung wichtiger Industrien in einem vernünftigen und vertretbaren Ausmaß eingetreten. Diese Verdächtigungen entsprangen daher nur einem absolutistischen Wirsohaftsdenken, das inmitten einer wachsenden politischen Demokratie im Wirtschaftsbereich ein autoritäres Herrentum aufrechterhalten wollte. So gelang es zwar, mit der schließlich zustande gekommenen Lohn- und Preiskommission eine Inflationsbremse zu schaffen, gewisse zu stürmische Entwicklungen bei den Preisen und Löhnen unter Kontrolle zu halten oder zu vermeiden, doch konnte das Ergebnis nicht voll befriedigen. Immer geschah einiges Vernünftige, dessen Ausbleiben beiden Teilen, den Beschäftigten und der Geschäftswelt, kaum einen Nutzen gebracht hätte.

Es darf auch nicht übersehen werden, daß die zweite Institution einer maßvollen Wirtschaftsregelung, der Wirtschaftsbeirat, der Regierung manchen guten Rat gab. Die Gewerkschaften wären allerdings im Interesse ihrer Mitglieder wie auch im Interesse der österreichischen Gesamtwirtschaft glücklicher gewesen, wenn freien demokratischen Planungskonzepten der Wirtschaftsfachleute beider Seiten rechtzeitig ein entsprechenden Platz eingeräumt worden wäre. Hätte dabei nicht ein allzu großer Dogmatismus des Liberalismus allzu hemmend gewirkt, befände sich Österreich gegenwärtig in einer besseren Situation.

Bei dieser Gelegenheit ist auszusprechen, daß sich das Verhältnis zwischen Unternehmer und Gewerkschaften in einem merkwürdigen Stadium befindet. Nichts deutet darauf hin, daß die Gewerkschaften dem funktionierenden privatwirtschaftlichen Unternehmertum ablehnend gegenüberstehen. Die Spitzenorganisationen der Unternehmer ihrerseits fanden bereits eine relativ freundliche Einstellung zu den staatserhaltenden Gewerkschaften. Den letzten Bundeskongreß des ÖGB im Herbst 1967 würdigte der Industriellenverband als „Akt eines wirklichen Strukturwandels”, als „ersten Kongreß einer gewandelten Gewerkschaft, die einen neuen Standort im politischen und gesellschaftlichen Kräftespiel bezieht”. Damit, so wurde ausgedrückt, eröffneten sich „neue Perspektiven für die Rolle der Gewerkschaften in der Zukunft”, „werden neue Ufer angesteuert”. Dennoch hören die Klagen der Gewerkschaften nicht auf, daß viele Unternehmer — wenn auch gewiß weitaus seltener die Führung der Großbetriebe als der mittleren und kleinen Betriebe —, entgegen den Bestimmungen des Antiterrorgesetzes, Beschäftigte, die einer Gewerkschaft beitreten, kündigen oder ihnen den Verlust des Arbeitsplatzes androhen. Es ist nicht leicht, die Richtigkeit der gewandelten Gewerkschaft in allen Schichten der Berufstätigen klarzumachen, wenn unternehmerische Kreise die Zeichen der Zeit — noch dazu die auch für jie sehr günstigen Zeiten — nicht zu erkennen vermögen, sondern in archaischen Gesellschaftsvorstellungen verharren.

Dem gleichen tiefsitzenden Mißtrauen begegnen die Gewerkschaft- ten, wenn sie Zusammenarbeit zwischen Unternehmungskräften und Vertretern der Beschäftigten bei Grundsatzüberlegungen über die Weiterentwicklung unserer Wirtschaft und innerhalb der Betriebe Vorschlägen. Wenn man den Gewerkschaften schon bescheinigt, daß sie über das Klassenkampfzeitalter hinausgewachsen sind, dann möge man sie auch so werten, wenn es um unsere ganze gemeinsame Zukunft geht. Man möge ihnen zubilligen, daß sie unter betrieblicher Mitbestimmung nicht ein Außerkraftsetzen der Unternehmungsfunktion verstehen, sondern daß auch im wirtschaftlichen Bereich toleranter Gedankenaustausch, der Dialog zweier Interessengruppen über das Schicksal und über die Weiterentwicklung der Betriebe, beginnen sollte. Die moderne Demokratie kennt im politischen Bereich zumindest im Prinzip nicht mehr die Scheidung in Herrentum und in Gefolgschaft. Sie kennt nur den vor dem Gesetz gleichberechtigten Staatsbürger. Auch in der Wirtschaft und im Betrieb sollten diese Grundlagen der Demokratie zu ihrem Recht kommen. Dabei handelt es sich wie im Gesellschaftsleben ebensowenig darum, funktionelle Unterschiede aufzuheben, sondern ausschließlich darum, jedem Staatsbürger ein Mitentscheidungsrecht in seinen eigenen Existenzbereichen zuzubilligen. Die moderne Demokratie wird sich nicht mehr lange der Erkenntnis verschließen können, daß Verantwortung und Schicksal auch in der Wirtschaft zwei Gruppen — und nicht ein einzige Gruppe — betreffen: die der Unternehmer und Kapitalträger, aber auch die der Arbeitskraft. Warum sollten beide Gruppen nicht Zusammenwirken können, ohne ihre spezifische Eigenheit aufzugeben, wenn sie beide in ihren eigenen Verbänden das gleiche Ziel haben: die wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Zukunft Österreichs zu sichern.

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