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„Gewichtsverlagerung“ in Chile

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Die politische Situation in Chile hat sich grundlegend geändert. Sowohl bei den Radikalen (Liberalen) wie bei der christdemokratischen

Regierungspartei ist der linke Flügel führend geworden, während sich gleichzeitig die Sozialisten gespalten haben. Diese Veränderung des politischen Panoramas beeinflußt nicht nur die Chancen für die Präsidentschaftswahlen von 1969, sondern verschiebt vor allem die

Weichen, die der Präsident Doktor Eduardo Frei für seine „Revolution in Freiheit“ stellen muß. Sie ist von größter Bedeutung als der einzige Mittelweg zwischen dem Beharren auf den längst überholten Strukturen der Kolonialzeit Und der gewaltsamen klassenkämpferischen

Revolution, wie sie aus Kuba proklamiert wird. Die chilenische Politik wird von vier Kräften bestimmt:

• der Rechten, die bei den letzten Kommunalwahlen 14,6 Prozent der Stimmen erhielt,

• den Radikalen (Zentrumspartei) mit 16,5 Prozent,

• den Christdemokraten (36,5 Prozent) und der

• „Volksfront“ (Sozialisten und Kommunisten) mit 29,2 Prozent.

Es mag sein, daß sich die Ziffern ein wenig verschoben hätten, wenn es sich um Präsidentschaftswahlen gehandelt hätte, aber sie ergeben nichtsdestoweniger die wahre Tendenz.

Vormarsch der linken Flügel

Um die chilenische Situation begreifen zu können, muß. man sich weiter vor Augen halten, daß die Christdemokraten zwar im Repräsentantenhaus über die absolute Mehrheit verfügen, aber im Senat, der vor zwei Jahren nur teilweise erneuert wurde, einer feindlichen Mehrheit gegenüberstehen. Dies ist der Grund, aus dem die Kraft Doktor Freis in der ersten Hälfte seiner Regierungszeit zum großen Teil von innenpolitischen Kämpfen weit über Gebühr in Anspruch genommen würde und seine wichtigsten Ziele, vor allem die Partnerschaft des chilenischen Staates mit den nordamerikanischen Kupferminengesellschaften und die Agrarreform, erst nach mehrjährigen Kämpfen Gesetz wurden. Umfangreiche Streiks der Lehrerschaft, der Ärzte und vor allem der Minenarbeiter, mit blutigen Zusammenstößen mit Polizei und Heer, die weitere Büro-kratisierung der Verwaltung mit Parteibuchbeamten und die nichtbeherrschte Inflation sowie die allgemeine „Abnützung“ haben sich zuungunsten des Präsidenten ausgewirkt, dem anderseits vor allem auf dem Erziehungssektor und mit seiner Kupferpolitik außerordentliche Fortschritte gelangen. Allem Anschein nach wird aber die „Revolution in Freiheit“, die er weiterhin als sein Ziel proklamiert, weniger von den Resultaten seiner Regierungsarbeit als von der innenpolitischen Entwicklung bestimmt.

Die sogenannten Radikalen sind eine Partei des Mittelstands, die vor allem „antiklerikal“ ist. Vor etwa 30 Jahren nahm sie an der ersten Volksfrontbildung Lateinamerikas teil. Der damals mit ihrer Hilfe gewählte Präsident Gonzalez

Videla verbot aber dann die Kommunisten. Bei den letzten internen

Wahlen der Radikalen ist ihr linkster Flügel ans Steuer gekommen, der sich mit der Volksfront anzufreunden sucht. Man sagt, daß sich jetzt die „Radikalen“ als Sozialdemokraten gebärden. Man diskutiert in Chile darüber, ob die Radikalen einen Präsidentschaftskandidaten der Volksfront oder umgekehrt diese einen Radikalen als Präsidentschaftskandidaten unter stützen würden. Diese Erörterungen sind sehr verfrüht. Aber daß sie überhaupt möglich sind, beweist, in welchem Grade sich das parteipolitische Gleichgewicht verschoben hat. Denn die Christdemokraten standen immer in der Mitte zwischen Radikalen und Volksfront. Dies ist auch der Hauptgrund dafür, daß der linke Flügel der Christdemokraten bei deren letzten parteiinternen Wahlen gesiegt hat. Die Regierungspartei reagierte mit einem internen Linksruck, da sie sonst durch das Manöver der Radikalen in Gefahr gekommen wäre, den Wählern als eine Partei zu erscheinen, die rechts von den Radikalen stünde.

Durch den Sieg der Linksgruppen innerhalb der Regierungspartei ist ihr Führer, der weißhaarige, aber sehr feurige Senator Rafael A. Gu-muzio, zum Gegenspieler Dr. Freis in bezug auf die Orientierung der Christdemokraten geworden. Diese ist sehr schwer zu umschreiben. Dr. Frei sucht einen Mittelweg zwischen Kapitalismus und Marxismus. Die Marxisten klagen ihn an, sich mit nordamerikanischem Kapital zu verbünden. Die Rechte wiederum beschuldigt ihn, den Weg zum Marxismus zu beschreiten. Die Orientierung der Christdemokraten nennt sich „comunitario“. Im heutigen Sprachgebrauch ist dieses Wort am besten mit „koopera-tivistisch“ zu übersetzen. Frei bringt seine Vorstellung darüber, was Kooperativismus ist, eng in Zusammenhang mit der sogenannten „promociön populär“ („Volksförderung“). Diese Bewegung verlegt einen großen Teil der Aufgaben des Staates auf die Selbsthilfe innerhalb der Gemeinden. Man definiert diese „promociön populär“ als einen „Prozeß, durch den das

Volk ausgebildet und organisiert wird, um an der allgemeinen Entwicklung des Landes und somit an der Lösung seiner eigenen Probleme wirksam selbst teilzunehmen“. Der chrisitdemokratischen Propaganda zufolge liegt darin bereits ein revolutionärer Schritt, insofern er die alten Strukturen überwindet, unter denen das Volk vom liberalen Kapitalismus als minderjährig und bei der marxistischen Revolution als Objekt der Diktatur behandelt wird. Diese „promociön populär“ zeigt sich in der Praxis zum Beispiel darin, daß die Frauen in einem Fischerhafen eine Pantoffelfabrik errichten, um im Winter den ausfallenden Verdienst ihrer Männer zu ersetzen, oder indem die Bewohner eines Elendsviertels gemeinsam Schulen oder Verwaltungsgebäude errichten oder Wege bauen usw. Die Kritiker erklären, daß die „promociön populär“ keine echte Alternative zwischen der kapitalistischen und der marxistischen Wirtschaft darstelle, sondern einen verschwommenen Begriff bilde, mit dem die Regierenden organisierten, was ihnen einfiele. Tatsächlich aber versteht der jetzt im der chrisrtdemo-kratischen Regierungspartei an die Macht gekommene linke Flügel unter „comunitarismo“ eine gemilderte Staatswirtschaft, wie sie augenblicklich in Jugoslawien besteht. Auf dem Parteikongreß hat der linke Flügel die Entschließung durchgesetzt, daß der Kapitalismus ein unwirksames System sei, das dem Gemeinwohl der Völker unermeßlichen Schaden zufüge; die Konzentration der wirtschaftlichen Macht in den Händen weniger und der Druck, den die wirtschaftliche Stärke auf die politisch führenden Kräfte ausübe, habe eine zersetzende Wirkung auf jede Volksgemeinschaft. Alle Christdemokraten sind sich darüber einig, daß dem Eigentum eine soziale Funktion innewohne, die die Voraussetzung für die Im Rahmen der Agrarreform vorzunehmende Enteignung bilde. Der linke Flügel verlangt aber, daß Banken, Versicherungswesen und Export verstaatlicht, die Aktiengesellschaften überwacht und die Monopole bekämpft werden.

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