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Gewitter im Mai

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Der Landmann hält mit Recht den Beginn des zweiten Drittels des Wonnemonats Mai für wetterkritisch. In kurzer Zeit kann sich der lockende Frühlingshimmel umziehen, düstere Wolken schieben sich vor die eben noch so strahlende Sonne, und ehe man sich versieht, prasselt der Regen eines frühen Gewitters auf die grünen Saaten.

Oesterreich erlebte in diesem Jahr ein politi-

sches Maigewitter. Es liegt auf der Hand, daß wir von den Nationalratswahlen des vergangenen Sonntags sprechen. Um es gleich zu sagen: Es war der am wenigsten notwendige Urnengang seit 1945.

Die erste P.egierungspartei verlor plötzlich, provoziert durch einen zu nicht allzugroßen Zugeständnissen bereiten Partner, die Geduld. Sie sagte das große Spiel für Mai 1959 — ein Jahr vor dem Ablauf der Legislaturperiode — an. Das nicht gerade Alltägliche war geschehen. Die mit einem Abstand von acht Mandaten führende Partei drängte auf Neuwahlen, obwohl sie von diesen nach nüchterner Ueberlegung bestenfalls eine Bestätigung ihrer 1956 unter dem frischen Eindruck der Erringung des Staatsvertrages eroberten Position erwarten durfte, aber auch kleinere Abschwächungen im vorhinein in Rechnung stellen mußte. Die zweite Partei dagegen, deren natürliches Interesse doch darin bestehen müßte, möglichst schnell auf den ersten Platz zu rücken, zierte sich plötzlich und verdeckte hinter Beteuerungen ihrer Koalitionstreue ihre anscheinend recht geringe Gefechtsbereitschaft. So begann jener Wahlkampf dieses Frühjahres, in dem viel von „Freiheit und Sicherheit“ auf der einen und „Sicherheit und Freiheit“ auf der anderen Seite, auf beiden aber von „keinen Experimenten“ die Rede war. Es war ein Wahlkampf der Akzente auf einzelnen Worten eines gemeinsamen Vokabulars. Mehr gutwillig als von der unumgänglichen Notwendigkeit dieses Urnenganges — hier und jetzt — überzeugt, spielten die Bundesbürger mit.

In dem über den Kreis der Politiker, Journalisten und Wahlmanagern hinaus kaum stärkere Wellen schlagenden Wahlkampf gelang es der Volkspartei in kurzer Zeit, eine bessere Figur zu machen als ihrem sozialistischen Widerpart. Ja man konnte leicht den Eindruck gewinnen, daß sie im Zuge der Wahlkampagne ihre Ausgangsposition verbesserte. Auch von Seiten der Sozialisten wurde dem durch sehr vorsichtige Prognosen Rechnung getragen.

Und dennoch: Die knapp vor Mitternacht des 10. Mai in der Hauptwahlbehörde aufleuchtenden Ziffern stehen fest: OeVP 79, SPOe 78, FPOe 8, KLS 0 Mandate.

In nüchternen Worten heißt dies: der Oester- reichischen Volkspartei ist es mit knapper Mühe gelungen, auch diesmal, wie nach jeder Wahl seit 1945, mit den meisten Abgeordneten in den Nationalrat einzuziehen. Die Sozialistische Partei hat den trennenden Abstand von acht Mandaten auf geholt und folgt nun — wie 1953 — wieder knapp auf den Fersen ihres Vordermannes mit 78 Abgeordneten. Das dritte historische Lager der österreichischen Innenpolitik, das einstmals Großdeutsche Volkspartei hieß, später in den Schober-Block sich wandelte, bevor es von der Flutwelle der NSDAP mitgerissen, reichlich ramponiert 1945 wieder an Land gespült wurde und zunächst im Vdll, zur Zeit in der Freiheitlichen Partei einen Kristallisationspunkt gefunden hat, kann sich nach Ueberwindung seines organisatorischen Tiefpunkts mit acht Mandaten im Parlament vorstellen. Keine Erfüllung allzu hochgespannter Erwartungen — aber immerhin ein Beharrungserfolg mit Verbesserung des Terrains. Zugefallen ins Schloß ist die Tür des Hohen Hauses vor den kommunistischen Abgeordneten. Trotz einer kleinen Ilmsiedlungsaktion nicht weniger Kadermitglieder in den bisher sichersten Wahlkreis Wien- Nordost fehlten der KPOe hier 5000 Wähler zur Erringung des Grundmandats. So erfreulich an sich die bedeutungslose Situation des Kommunismus in Oesterreich ist, daß er es trotz eines gleichgebliebenen Wahlgesetzes nicht einmal zu einer minimalen parlamentarischen Vertretung mehr bringen kann, so möchten wir auch nicht die negativen Aspekte dieses an sich wohlverdienten Durchfalls übersehen. Gar leicht könnte im Ostblock das Märchen verbreitet werden, die Kommunistische Partei werde in Oesterreich durch „undemokratische“ Maßnahmen unterdrückt. Da war uns schon die vor aller Welt durch drei Abgeordnete sichtbar demonstrierte „iferiorität dieser Gruppe lieber.

Es ist in der Schnelligkeit nicht möglich, den Leser durch den Dschungel der Wahlarithmetik hindurchzuführen. Dennoch soll ein Blick auf die Stimmenbewegung nicht versäumt werden. Hier fallen Schatten auf den, wenn auch knappen, so unbestrittenen Mandatsvorsprung der Oesterreichischen Volkspartei. Ihren 1,927.690 (1956: 1,999.986) Wählern stehen 1,953.566 (1956: 1,873.295) Wähler der Sozialistischen Partei gegenüber. Das heißt, der österreichische Wähler hat sich — eben genauso wie 1953 — den beinahe schon einer jener bizarren Geschichten von Herzmanovsky-Orlando entlehnten schwarzmelierten Humor geleistet, einer Partei die meisten Mandate, der anderen ein Mehr an Stimmen zuzuerkennen. Wieder in die nüchterne Sprache der Zahlen zurück: Gegenüber 1956 muß die OeVP einen Verlust von 72.296 Wählern feststellen, die SPOe kann sich über einen Zuzug von 80.271 Stimmen freuen, die FPOe darf ein Plus von 5 2.200 buchen und die KPOe muß 49.840 „tote (Partei-) Seelen“ beklagen.

Doch damit sind wir schon bei anderen Gedanken. Sehr ernsten Gedanken. Wie konnte es geschehen, daß die Oesterreichische Volkspartei, geführt von einer so starken und verdienstvollen

Persönlichkeit wie Ing. Raab, ausgestattet mit unbestreitbaren Verdiensten für die Wirtschaft, begleitet von einer überlegenen Propaganda, in der Nacht des Wahltages vor einem Aschenhaufen echter und falscher Erwartungen stehen mußte? Die Antwort ist nicht einfach. Auch liegt es uns fern, uns an dem gewiß sehr bald einsetzenden munteren Gesellschaftsspiel „Der ist schuld ..., nein, der ..." (wobei jeder auf den Nebenmann zeigt) zu beteiligen. Womit wir aber keineswegs der Aufgabe uns entheben können und wollen, die tieferen Gründe der nicht unbedenklichen Entwicklung aufzuzeigen.

Für heute nur dies:

Eine Partei, die „allen alles sein will“, wird letzten Endes, bei vollem Verständnis für das durchaus legitime Bestreben jeder politischen Partei nach Ausweitung, immer weniger Menschen und Gruppen eine echte politische Geborgenheit geben können. Das aber ist der Nährboden für jenes schleichende Unbehagen, das für einen nüchternen Beobachter unübersehbar sich in letzter Zeit auch in Bezirken auszubreiten begann, die ihrer Tradition und Ueber- zeugung nach zu den festen Kadern der Volkspartei gehören. Man bleibt zwar seiner Partei als Wähler treu — allein der propagandistische Schwung, der Abseitsstehende mitreißen kann, ist dahin. Was soll man davon halten, wenn eine Partei, die doch den Materialismus im Gegner bekämpfen und die ideellen Güter hüten will, eine Wahlbroschüre in den deprimierenden Satz ausfließen läßt: „Wir wählen den größeren Kuchen. Wir wählen Liste 1"? Dazu kommt eine zu geringe Betreuung jener wirtschaftlich schwa chen Schichten, vor allem auf dem sich sozial so wandelbaren flachen Land (siehe Bürgenland!). Nimmt man als drittes die beinahe souveräne Vernachlässigung der jungen Wähler (als Wähler und Gewählte) hinzu, so rundet sich das Bild. Sollte man es als Witz oder als Hohn auffassen, wenn man — ebenfalls eine Wahlaussendung — einen, übrigens äußerst liebenswürdigen Kandidaten als den „Typus des jungen und aufgeschlossenen Oesterreichers“ vorstellt. Linser „junger und aufgeschlossener Oesterreicher“ ist im März 1910 geboren. Er steht also im 50. Lebensjahr! Ist die Grenze der Jugend wirklich so weit hinaufgerückt? Sind die Zeiten schon vergessen, in denen Männer mit 34 Jahren Landeshauptleute und Minister in Oesterreich wurden? Heute stehen wir eher vor der Tatsache, daß gerade die Menschen der im Krieg gereiften Generation zwischen Dreißig und Vierzig — die natürlichen Mittler zwischen jung und alt — politisch „draußen vor der Tür" stehen.

Und hier sind wir vielleicht bei dem Entscheidenden: der fehlenden R e g e nėra t i o n s f r e u d i g k e i t im Lager der ersten Regierungspartei. Immer we-

niger wollen es glauben, daß aus so einem großen Reservoir von Talenten, über das jene Partei noch immer verfügt, nur eine kleine Schar das Zeug in sich haben soll, die Dinge zu einem guten Ende zu führen.

Wenn wir diese Zeilen schreiben, so gehen unsere Gedanken auch zu dem Mann an der Spitze: zu Ingenieur Raab. Und diese Gedanken sind jene echten Mitgefühls. Wir wissen, daß hinter der rauhen Schale dieses nüchternen Politikers ein weicher, verwundbarer Kern steckt. Wenn der österreichische Wähler ihm nicht jene Bestätigung seiner Politik gab, auf die er auf Grund seiner staatspolitischen, aber auch physischen Leistung wohl ein Anrecht hat, so mag dies leicht als schwere persönliche Kränkung empfunden und schwer verwunden werden.

Doch gegenüber diesen mehr elegischen Betrachtungen stehen die Zukunft und ihre Aufgaben. Es wäre eine Krönung des politischen Lebenswerks Ing. Raabs, wenn der alte Pionier vielleicht über seine jetzige engere Umgebung hinweg eine Brücke schlagen könnte und den Einzug neuer unverbrauchter Kräfte aus dem reichen Reservoir jener Menschen, denen Oesterreich und seine Zukunft nicht nur eine Magenfrage ist, in die alte Festung fördern würde.

Zu hoch gespannte Erwartungen. Vielleicht! Aber eines ist sicher: so wie kein Grund zur Panik im Lager der Volkspartei zur Stunde gegeben ist, so müßten Selbstqerechtigkeit und Attentismus die letzten Dinge ärger als die ersten machen.

Ein neues Parlament tritt in wenigen Wochen zusammen Wird es ein langes Leben haben? Fast möchte man es bezweifeln. Nachdem jede andere Kombination mit Recht auf stärkste Widerstände stoßen müßte, ist die Koalition weiterhin unser politisches Schicksal. Alles hängt von dem Geist ab, in dem sie geschlossen wird. Verbitterung ist auf der einen Seite ein ebenso schlechter Ratgeber wie auf der anderen Maßlosigkeit. Nach wie vor gilt das geistige Modell, das der Herausgeber der „Furche“, Doktor Friedrich Funder, 1951 in einer ebenso schweren Stunde der Volkspartei, bei entschiedener Ablehnung aller Kombinationen, der drit ten parlamentarischen Gruppe die unverdiente Rolle eines „Züngleins" zuzuspielen, von der Koalition entworfen hat:

„Die Bürgschaften unserer staatlichen Ordnung und Sicherheit, die vor sechs Jahren richtig ermessen wurden, gelten auch heute noch. Das soll nicht heißen, daß nicht manches besser zu wünschen gewesen wäre. Manche Erwartung wurde nicht erfüllt, die Verständigung über Angelegenheiten von programmatischem Gewicht ist ausgeblieben. Es soll nie vergessen werden: Die Koalition ist nicht eine simple Proporzformel, ein Machtverteilungsschlüssel, ein seelenloses knöchernes Gehäuse — sie findet ihre Sinnerfüllung in der inneren Haltung der Partner zueinander, in dem guten Willen zum Verstehen des anderen, in der bedingungslosen Achtung vor seiner sittlichen Ueberzeugung. Nicht immer sind der Bevölkerung die Lebenselemente eines echten Koalitionsverhältnisses praktisch und beweiskräftig dargetan worden.“ („Die Furche“, 21. April 1951.)

Gewitter im Mai! Es kann Verheerungen anrichten, fruchtbares Land überfluten. Es kann aber auch den Boden lockern, die neue Saat eines neuen Jahres beleben. Bis zu den Tagen der Ernte haben wir noch Zeit.

Alles kommt darauf an. ob und wie diese Zeit genutzt wird.

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